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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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fühlte, wie die Fasern des zweiten Strangs sich einem Strahlenkranz gleich nach außen spreizten. Mit einem Mal bemerkte er den Rumpf der Galiot über seinem Kopf und geriet in Panik, wissend, dass sie sich jetzt als undurchdringliches Bollwerk zwischen ihm und der Luft erstreckte. Unmittelbar darauf folgten zwei Trommelschläge. Er hackte auf den einen verbliebenen Strang der Trosse ein und spürte schließlich, wie der in seiner Hand
zerbarst, als wäre er ein Rohrkrepierer, wobei der Knall in einem unvergleichlich lauteren Geräusch unterging: einem langgezogenen Mahlen und Knirschen, wie wenn Riesen Bäume zermalmen. Das abgeschnittene Ende der Trosse schnellte nach oben und schlug ihm quer über die Schulter. Es schlang sich aber nicht um seinen Hals, wie es in vielen Albträumen der letzten Monate passiert war.
    Etwas Hartes, Glattes drückte sich gegen die Haut von Jacks Rücken – die Rumpfplanken der Galiot! Er wusste nicht, wo oben und unten war. Aber diese Klinker überlappten einander dachziegelartig, und als er ihre Kanten mit einer Hand abtastete, war ihm sofort klar, welcher Weg nach unten zum Kiel und welcher nach oben an die Wasserlinie führte. Schwimmend und gegen seinen Auftrieb ankämpfend, der ihn an den Rumpf heften wollte, tauchte er schließlich auf, sog keuchend Luft ein und japste dabei wie ein Hund.
    Über sich hörte er Geschrei und Panik, aber keine Schüsse. Das war gut, bedeutete es doch, dass die Offiziere der Brigg sie als die hilflosen Teppichhändler vom Tag zuvor wiedererkannt und nicht vorschnell den Schluss gezogen hatten, sie würden angegriffen. Die Korsaren hatten kurz vor dem Zusammenstoß auf der ganzen Länge der Galiot Laternen angezündet, so dass die Spanier, die von unterdecks heraufgerannt kamen und sich noch den Schlaf aus den Augen rieben, durch den beruhigenden Anblick von immer noch sicher angeketteten Ruderern und freien Besatzungsmitgliedern, die unbewaffnet und desorganisiert waren, beruhigt wurden.
    Die Galiot trieb von Jack weg, oder besser, er von ihr. Er drehte und wand sich im Wasser, bis er den Rumpf der Brigg vor sich hatte, die auf ihn zuschoss – oder besser, auf die die Strömung ihn zutrieb. Und das war das einzige wirklich Schrecken erregende Element in dem ganzen Plan. Am Vordersteven ragte der Rumpf steil aus dem Wasser, um leichter über die Wellen fahren zu können, aber genauso leicht würde er auch über Schwimmer fahren. Schon ließ er die Sterne verschwinden. Der Sog würde Jack unter den Schiffsrumpf ziehen, wenn es ihm nicht vorher gelang, irgendwo Halt zu finden. Er würde praktisch kielgeholt und ein paar Minuten später wieder auftauchen oder nicht, tot oder lebendig, gehäutet von der Schale der Bernakelmuscheln, die im Verlauf der langen Atlantiküberquerung am Rumpf der Brigg gewachsen waren.
    Dabei hatte er das Werkzeug, um sich zu retten: die zwei Enterbeile, die er zuvor aus dem Fass mit der Kette genommen hatte. Sie sahen
aus wie langstielige Beile mit kleinen Köpfen, aus denen hinten, einem Papageienschnabel ähnlich, ein geschwungener, spitzer Haken herausragte. Jack bekam eines davon zu fassen, drehte es in der Hand herum, so dass es mit dem Haken zuerst auftreffen würde, und holte aus, um den Rumpf der Brigg zu attackieren. Doch das Gewicht von Arm und Beil zog seinen übrigen Körper, einschließlich seines Kopfes, unter die Wasseroberfläche. Blind dahintreibend, schlug er mit Brust und Gesicht gegen den Rumpf. Die Bernakelmuscheln gruben sich wie Angelhaken in seine Haut, und die Strömung zog ihm die Beine weg und presste seinen ganzen Körper unterhalb der Wasserlinie an den Rumpf. Als letzte, schwache Geste hätte vielleicht der Haken seines Enterbeils ungefähr einen Fuß über dem Wasserspiegel auf den Rumpf einhacken können, aber er fand nirgendwo Halt. Wenig später rutschte Jack tiefer, und die Bernakelmuscheln schürften ihm Oberschenkel, Bauch, Brust und Gesicht auf, während der Sog ihn nach unten drückte.
    Das war sie nun: genau die Kielholung, vor der er sich gefürchtet hatte. Er rutschte wieder, und das Enterbeil hätte sich fast mit einem Ruck seinem Griff entzogen. Es musste irgendwo stecken geblieben sein – vielleicht am Rand einer einzelnen Bernakelmuschel oder in einer kalfaterten Ritze zwischen zwei Planken. Er zog an ihm, und einen Moment lang bewegte es sich nicht, doch dann fing es an, sich zu lösen; es steckte nicht tief genug in dem Schiffsrumpf, als dass er seinen Kopf daran hätte aus

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