Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
Vom Netzwerk:
katholisch bleiben«, sagte der einundfünfzigjährige Gelehrte. Er hakte einen weiteren Punkt auf einer Liste ab, die er auf einer mit
dem Wappen der Welfen geschmückten Meißener Servierplatte ausgebreitet hatte.
    Dann blickte er in der Erwartung auf, den Saum des Ballkleids der siebenundsechzig Jahre alten Kurfürstin knapp über der Tischplatte schweben zu sehen. Stattdessen traf ihn das Kleidungsstück – Meilen geraffter Seide, durch ein darunterliegendes Gestell aus Bein und Stahl noch gefährlicher gemacht – im Gesicht und riss ihm die Brille von der Nase, als die Kurfürstin von Hannover eine zackige Wendung vollführte.
    »Ich habe zwei Wochen gebraucht, um diese Gläser zu schleifen.« Gottfried Wilhelm von Leibniz beugte sich zur Seite, um seine Brille vom Boden aufzuheben. Er musste den Kopf gerade halten, um zu verhindern, dass seine größte und beste Perücke von seiner kahlen, verschwitzten Kopfhaut rutschte. Davon bekam er zwar einen steifen Hals, aber es verschaffte ihm auch einen bezaubernden Blick auf zwei muskulöse weiße Waden, die sich spannten und entspannten, während seine Gönnerin die Mittellinie des Banketttisches entlangstürmte.
    »Das ist eine Neuigkeit «, beschwerte sie sich, »die ich von jedem meiner Hofräte erfahren könnte. Von Euch erwarte ich Besseres: Klatsch oder Philosophie.«
    Leibniz stand auf und nahm dabei einen Teil seines Stuhls mit; die leere Scheide seines Rapiers hatte sich in einer geschnitzten Verzierung verfangen. Beim Geräusch einer durch die Luft sausenden Klinge fuhr er zusammen und duckte sich. »Fast getroffen!«, rief Sophie fasziniert aus.
    »Klatsch... Ich versuche, mir irgendwelchen Klatsch einfallen zu lassen. Äh, der Palast Eurer Tochter in Berlin entwickelt sich weiterhin prächtig. Die Höflinge dort sind ganz aus dem Häuschen.«
    »Genauso aus dem Häuschen wie letzte Woche, oder anders?«
    »Mit jedem Tag, der verstreicht, mit jeder neuen Statue und jedem neuen Fresko, die Schloss Charlottenburg hinzugefügt werden, wird es immer schwieriger, die unangenehme – die peinliche – die monströse Tatsache zu leugnen, dass Friedrich, der Kurfürst von Brandenburg und wahrscheinliche künftige König von Preußen, in Eure Tochter verliebt ist.«
    »Warum sollte man darüber aus dem Häuschen geraten?«
    »Weil sie miteinander verheiratet sind. Es gilt als viehisch – als widernatürlich.«

    »In Wirklichkeit geht es darum, was die Höflinge allesamt von mir glauben.«
    »Dass Ihr Sophie Charlotte dort platziert habt, um Friedrich zu kontrollieren?«
    »Mmmm.«
    »Und, habt Ihr das?«
    »Falls ja, hat es offensichtlich funktioniert, und genau das können die Höflinge nicht ertragen«, antwortete Sophie unbestimmt. Erneut wirbelte sie herum, sodass der Furcht erregende Saum ein paar Löwenmäuler des Tafelaufsatzes zerfetzte, und rannte mit wie Schlachtwimpel hinter ihr herflatternden Seidenbändern den Tisch entlang. Sie führte abermals einen tückischen Hieb mit dem Rapier. Kerzenstücke flogen umher und landeten, Rauchfäden spinnend, in Spritzern ihres eigenen Wachses. »Ich wäre ruck, zuck damit fertig, wenn mir dieser verdammte brennende Busch nicht im Weg wäre«, sagte sie nachdenklich und deutete mit dem Rapier auf einen Kandelaber, der von Künstlern, die offenbar reichlich Zeit gehabt hatten, aus mehreren hundert Pfund Harzer Silber zusammengeschmiedet worden war.
    Ein paar Dienstboten, die sich bislang so weit wie möglich von der Kurfürstin entfernt an die Wand des Speisesaals gedrückt hatten, wuselten nun mit gebeugten Knien und erhobenen Händen auf das Anstoß erregende Stück zu. Sophie ignorierte sie und neigte das Rapier dahin und dorthin, sodass das Licht der überlebenden Kerzen die Klinge auf und ab spielte. »Kein Wunder, dass Ihr es nicht aus der Scheide gezogen bekamt«, sagte sie, »es war festgerostet, nicht wahr?«
    »…«
    »Was wäre, wenn ich Euch auffordern müsste, meine Reiche zu verteidigen, Doktor?«
    »Fechter sind leicht zu bekommen. Ich könnte eine teuflisch gute Belagerungsmaschine konstruieren oder mich auf andere Weise nützlich machen.«
    »Macht Euch jetzt nützlich! Mit Klatsch aus Berlin braucht Ihr mir nicht zu kommen. Meine Tochter erzählt mir mehr davon, als ich brauche, und die kleine Prinzessin Caroline schickt mir die großartigsten Briefe – auf Eure Veranlassung?«
    »Seit dem vorzeitigen Tod ihrer Mutter habe ich einen gewissen Anteil an ihrer Erziehung genommen. Sophie Charlotte

Weitere Kostenlose Bücher