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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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Decksplanken glitten und zischten, bis jedermann an Deck daran zu zweifeln begann, dass die malabarischen Matrosen sich mit dem Lotblei wirklich auskannten. Doch dann schienen die Taue zu erschlaffen. Sie blieben locker liegen, und die Filipinos machten sich daran, den schlaffen Teil der Taue wieder einzuholen. Die Segel waren allesamt gestrichen, aber der Wind, mit dem sie aus dem Japanischen Meer hereingekommen waren, fand einen guten Angriffspunkt am Rumpf der Minerva und stieß sie vorwärts in den langen Schatten eines Berges mit schneebedeckter Spitze, wodurch der kuriose Eindruck entstand, die Sonne ginge im Osten unter.
    Jack, Vrej Esphahnian und Padraig Tallow waren oben um den Fockmast herum damit beschäftigt, die paar armseligen Segel zu verstauen, die van Hoek benutzt hatte, um die Minerva in diese kleine Bucht zu bringen. Jack und Vrej hingen in den Webleinen, während Padraig, der bei einem Piratenangriff vor der Insel Hainan sein linkes Bein verloren hatte, auf einem handgeschnitzten Holzbein aus Jakarandaholz umherstapfte, vor sich hin summte und, wo erforderlich, an Tauen zog. Diese Männer waren Anteilseigner an dem Unternehmen
und erledigten normalerweise keine Seemannsaufgaben. Heute befand sich jedoch der größte Teil der Schiffsbesatzung unten auf dem Geschützdeck. Das Schiff hatte eine schwerfällige Rollbewegung entwickelt, die für Jack oben in den Webleinen nicht weiter bedenklich war. Ohne dass er hinschauen musste, war ihm klar, dass sämtliche Kanonen so weit es ging ausgefahren waren und jetzt aus ihren Stückpforten hinausragten, was der Minerva das Aussehen eines Igels verlieh. Diese Botschaft würden die Japaner, die in den Wäldern am Rand dieser Bucht lauerten, verstehen, ohne einen Blick in ihre Rangaku -Bücher werfen zu müssen.
    Gabriel Goto stand in einem leuchtenden Kimono am Bug. Von oben konnte Jack sehen, dass seine Schultern sich entspannten und sein Kopf leicht geneigt war. Der Ronin hatte sein angegrautes Haar zu einer so merkwürdigen Frisur rasiert, geschnitten, gefettet und geknotet, dass sie ihm in den meisten Gerichtsbezirken die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen eingebracht hätte oder er im besten Fall zu Brei geschlagen worden wäre; aber hier war sie anscheinend genauso de rigueur wie in Versailles Perücken. Hätte er erst einmal jenen Strand dort betreten, brauchte Gabriel Goto sich nie wieder darum zu sorgen, ob er in den Augen von Europäern seltsam aussah. Entweder war nämlich die ganze Transaktion eine Falle und man würde ihn auf der Stelle kreuzigen (die übliche Begrüßung für portugiesische Missionare), oder es war eine durch und durch ehrliche Angelegenheit, und er würde wieder ein angesehener Japaner werden – ein Samurai, der sich um irgendein kleines Bergbaugebiet im Norden kümmerte und seine religiösen Vorstellungen – falls er noch welche hatte – für sich behielt.
    »Seine Reise ist vorbei«, bemerkte Enoch Root, als Jack auf das Oberdeck hinabstieg. »Ihr habt Eure zur Hälfte hinter Euch, würde ich sagen.«
    »Ich wollte, es wäre so«, sagte Jack. »Van Hoek hat mir erzählt, dass wir noch einmal vierzig Grad ostwärts reisen müssen, bevor wir den Teil der Erde erreichen, der London diametral gegenüberliegt. Nach all den Jahren habe ich noch nicht einmal annähernd die Hälfte hinter mir.«
    »Das ist nur eine Art, sie zu messen«, sagte Enoch. Er hatte auf dem Deck gekauert und ein paar geheimnisvolle Instrumente und Substanzen in einem schwarzen Kasten angeordnet. Jetzt stand er auf und wies mit dem Kopf auf irgendeinen besonderen Punkt, den seine
Augen am Ufer ausgemacht hatten. »Ihr könntet stattdessen auch sagen, dass kein Ort von London aus weniger erreichbar ist als dieser.«
    »Oder dass kein Ort von hier aus schwerer zu erreichen ist als London«, sagte Jack. »Ich verstehe, was Ihr meint.«
    Sie standen eine Weile da und schauten sich Japan an. Jack hatte nicht so recht gewusst, was er erwarten sollte. Er war auf alles gefasst gewesen: Schlösser, die in der Luft schwebten, doppelköpfige Schwertkämpfer, Dämonen, die oben auf Vulkanen thronten. Sie hatten nun eine jener Gegenden erreicht, die auf den Landkarten des Doktors in Hannover nicht verzeichnet gewesen waren, außer als vage Andeutungen von Küstenlinien ohne richtiges Hinterland. Wenn es irgendwo auf dem Globus Geistererscheinungen gab, dann hier. Aber Jack sah keine. Nun, da sie lange genug hier waren, um die ersten Einzelheiten wahrzunehmen, konnte

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