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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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von diesen Briefen vorlesen«, sagte de Ath und drehte den Kopf um den Bruchteil eines Grades, um auf einige bekritzelte und mit einer Bibel beschwerte Blätter am Ende des Tisches zu deuten. »Sie stammen von Brüdern von mir aus Europa und erzählen – wenn auch auf bruchstückhafte, mosaikartige Weise – die Geschichte einer Welle der Veränderung, die sich, hauptsächlich dank Männern wie Leibniz, Newton und Descartes, in der Christenheit ausbreitet. Es ist eine Veränderung in der Denkweise der Menschen, und es ist der Untergang der Inquisition.«
    »Bestens! Dann brauchen wir ja nichts weiter zu tun, als uns noch ungefähr zweihundert Jahre gegen Strappado , Bastinado , Wasserfolter und Peitsche zu behaupten; die Zeit dürfte wohl ausreichen, bis diese neue Denkweise nach La Ciudad de México gedrungen ist«, sagte Jack.
    »Mexiko wird von Madrid aus regiert, und die Aufklärung hat Madrid bereits im Sturm genommen«, sagte de Ath. »Der neue König von Spanien ist ein Bourbone, der Enkel von Ludwig XIV. von Frankreich.«
    »Oho!«, sagte Moseh.
    »Iiihh, der schon wieder!«, sagte Jack. »Erzählt mir bloß nicht, dass ich meine Hoffnungen auf Freiheit jetzt auf Leroy setzen muss!«
    »Viele Engländer teilen Eure Gefühle, weshalb auch ein Krieg ausgebrochen ist, um die Angelegenheit zu regeln, aber einstweilen trägt Philip die Krone«, sagte Edmund de Ath. »Nicht lange nach seiner Krönung wurde er zum Autodafé der Inquisition in Madrid eingeladen und ließ sich entschuldigen.«
    »Der König von Spanien hat ein Autodafé versäumt?!«, rief Moseh aus.
    »Das hat die Inquisition bis in ihre Grundfesten erschüttert. Der Inquisitor von Mexiko wird uns noch ein oder zwei Mal aushorchen, aber weiter wird er es nicht treiben. Spottet über die Aufklärung, so viel Ihr wollt. Sie ist bereits hier, genau in dieser Zelle, und wir werden ihr unser Überleben verdanken.«
     
    Das Gefängnis der Inquisition lag nicht weit von der Münze entfernt, wo theoretisch jede Unze Silber, die aus den Minen von Mexiko kam, in Pesos verwandelt wurde. In der Praxis wurde natürlich etwas zwischen einem Viertel und der Hälfte des mexikanischen Reichtums aus
dem Land geschmuggelt, bevor der König seinen Fünften erheben konnte, aber die Menge Silber, die nach La Ciudad de México herunterkam, reichte immer noch, um sechzehntausend Pesomünzen am Tag zu prägen. Diese Zahl war so groß, dass sie Jack fast nichts sagte. Zweitausend pro Stunde war für ihn schon eher vorstellbar. Das Dröhnen und Knirschen schwerer Silberkarren auf den Pflastersteinen jenseits der Gefängnismauern gab ihm ein Gefühl für die schiere Metallmasse, die dazu nötig war.
    Eines Nachmittags schnappte er im Gefängnishof Luft und ließ die Sonne auf ein paar frische Peitschenwunden scheinen, die sich wie purpurrote Ranken um seinen Körper wanden. Es war ein ruhiger, schwüler Tag. La Ciudad de México erstreckte sich gerade mal eine Meile in jede Richtung, und so war aus jedem Viertel etwas zu hören: Teppiche, die aus Fenstern geschüttelt wurden; eiserne Wagenräder auf Pflastersteinen; Peitschenhiebe; Gezänk auf dem Markt; protestierende Maulesel, Hühner und Schweine; ziellose Gesänge verschiedener religiöser Orden – mit anderen Worten, derselbe Lärm wie in jeder anderen Stadt der Christenheit, nur schien die dünne, knochentrockene Luft dieses Hochtals Geräusche weiterzutragen und dabei scharfe gegenüber weichen zu begünstigen. Dann gab es noch Geräusche, die nur in diesem Land zu hören waren. Das Hauptnahrungsmittel war Mais und das Hauptgetränk Kakao, und beide mussten im ersten Schritt ihrer Zubereitung zwischen Steinen zermahlen werden; so wurde jede Gruppe von Menschen in Neuspanien, die nicht buchstäblich am Verhungern waren, von einem schwachen, nagenden Geräusch begleitet.
    Jack hatte sich einen Stoffstreifen über die Augen gebunden, damit er bequem in der Sonne liegen konnte, und eine Strohmatte auf den Steinen des Gefängnishofes ausgerollt, um deren Unebenheiten ein wenig auszugleichen, aber bis auf ein paar Schichten Haut, Haare und Stroh befand sein Schädel sich in direktem Kontakt mit den Steinen. Auch wenn er sich die Finger in die Ohren steckte und so die Geräusche alles Belebten abhielt, wurden durch diese Straße immer noch gewisse Vibrationen mineralischer Natur in seinen Kopf geleitet, und selbst wenn zufällig keine Karren draußen vorbeirumpelten, stellte Jack sich vor, er könnte das allgegenwärtige

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