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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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guten Ruf zu haben.«
    Moseh nickte. »Ich habe mit vielen alten Juden in Neu-Amsterdam und Curaçao gesprochen, die mir erzählten, dass die Inquisition sich früher selbst trug, indem sie das Vermögen der Juden konfiszierte. Hier in Mexiko hat sie ihre Arbeit jedoch so gründlich erledigt, dass ihr die Juden ausgegangen sind – mittlerweile kann sie nur noch gelegentlich einem Mestizen, der den Namen Gottes missbraucht hat, seinen Packesel wegnehmen. Da hatte ich endlich so etwas wie meine eigene kleine Aufklärung und begriff, was der Inquisitor in Wirklichkeit wollte. Ich gestand nichts, außer dass ich eine Menge Silber habe, und bot an, für dieses Verbrechen am Morgen des Autodafé angemessen Buße zu tun. Damit war mein – unser – Gottesurteil gesprochen.«

La Ciudad de México
    DEZEMBER 1701
    Nicht zu einem Autodafé zu gehen, galt überall im spanischen Reich, vor allem in La Ciudad de México, als keine gute Idee. Jedes Stückchen Land gehörte der Kirche, und die heiligen Aufseher Roms waren (jedenfalls stellte Jack sich das so vor) hierhergekommen und hatten auf dem Land, das auf wundersame Weise dem Texcoco-See abgerungen worden war, eine Dreieinigkeit von Dämmen angelegt, heilige Bleilote aus Heiligenschädeln aufgehängt und Seile aus gesponnenem Engelshaar gespannt, an strategischen Scheitelpunkten Kreuze in den Boden getrieben und das Land in Vierecke parzelliert, die alle dicht aneinanderangrenzten; Engel mochten durch die Zwischenräume hindurchschlüpfen, Indianer oder Landstreicher dagegen niemals. Diese Parzellen waren dann verschiedenen religiösen Orden anvertraut worden, nämlich den Karmelitern, Jesuiten, Dominikanern, Augustinern, Benediktinern, et cetera , von denen jeder auf der Stelle begann, eine hohe Steinmauer um sein Eigentum zu errichten, um es gegen die Intrigen und vermeintlichen Häresien der benachbarten Orden abzuschirmen. Nachdem das vollbracht war, hatten sie sich daran gemacht, das Innere mit Kirchen, Kapellen und Schlafsälen zu füllen. Die Gebäude sanken fast so schnell, wie sie gebaut wurden, in den weichen Boden ein, was den etwa hundertachtzig Jahre alten Ort viel älter erscheinen ließ, als er tatsächlich war. Jedenfalls gab es in La Ciudad de México kein Fleckchen Erde, das nicht von einem der Orden kontrolliert wurde, und folglich auch keine Möglichkeit, nicht bei einem Autodafé zu erscheinen, ohne dass es von jemand bemerkt wurde, der geneigt war, es in den falschen Hals zu kriegen.
    Trotz – oder vielleicht gerade wegen – ihrer Tendenz, zurückgezogen hinter hohen Mauern zu leben, liebten die Männer und Frauen dieser verschiedenen Orden nichts mehr als sich in seltsame Gewänder zu hüllen, in einer Art Parade durch die Straßen der Stadt zu ziehen und religiöse Bildnisse oder Reliquien mit sich zu tragen. Als Jack diese Stadt einmal als freier Mann besucht hatte, waren diese endlosen Prozessionen eine regelrechte Bedrohung und Behinderung des
Handels gewesen. Manchmal stieß eine von ihnen an einer Straßenecke mit einer anderen zusammen, und Mönche gerieten in einen handfesten Streit darüber, welcher Orden den Vortritt hatte. Ein Autodafé stellte eine der wenigen Gelegenheiten dar, die so bedeutend waren, dass sämtliche Nonnen aus den zweiundzwanzig Nonnenklöstern der Stadt und sämtliche Brüder aus ihren neunundzwanzig Mönchsklöstern dazu gebracht wurden, alle zur selben Zeit in mehr oder minder dieselbe Richtung zu marschieren. Damit waren sie auch alle anwesend.
    Natürlich fanden Landstreicher immer einen Weg zu existieren. In dieser Gegend schienen sie, nach dem Willen wichtiger Leute, außerhalb der Mauern zu leben. Nicht einmal zehn Jahre früher hatten sie sich in genügend großer Zahl am Zócalo zusammengefunden, um den Palast des Vizekönigs niederzubrennen. Seit diesem Vorfall war der Graf von Montezuma immer etwas nervös geworden, sobald sich in der Nähe seines Wohnsitzes Gesindel in größerer Menge sammelte; sein neu erbauter Palast hatte hohe Mauern mit zahlreichen Schießscharten, durch die jede aufsässige Menschenmenge mit Traubenladungen bestrichen werden konnte. Die Vagabunden, die Criollos , die im Gebirge wohnenden indianischen Peons , die Desperados aus dem Bergbaugebiet oben im Norden, sie alle durften sich nur zu ganz bestimmten Gelegenheiten in der Stadt versammeln, und das Autodafé war eine davon. Natürlich hatten sie keinen festen Platz in der Prozession der Prozessionen, die sich durch die Straßen zum

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