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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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vierspännige Kutsche und ein zweispänniger Gepäckwagen fuhren im Hof vor. Gestiefelte Lakaien und Kutscher, in feuchte Wolle gehüllt, stapften von Pferd zu Pferd, nahmen leere Futtersäcke weg und zurrten Geschirre fest. Eine üppige Frau, das Gesicht am Ende des Tunnels einer Haube sitzend, tauchte aus den Dienstbotenquartieren auf und zog sich eine schwere Decke um die Schultern. Sie setzte einen Fuß auf den Tritt unter dem Kutschenschlag und hievte sich hinein, sodass das Gefährt sich neigte und in seiner Federung schwankte. Zwei Männer tauchten aus dem Stall auf und klopften qualmende Klümpchen aus den Köpfen ihrer Tonpfeifen. Sie zogen schwere Handschuhe an und stiegen auf Pferde; als sie das Bein über den Sattel schwangen, teilten sich einen Moment lang ihre schweren Reitmäntel, und man sah, dass jeder wie ein Schlachtschiff mit einem Sortiment kleiner Kanonen, Dolche und Entermesser ausgerüstet war.

    Die Vordertür des Haupthauses ging auf, und Farbe brach daraus hervor: ein Kleid aus grüner Seide, verziert mit Bändern und Volants in vielen anderen Farben, ein rosiges Gesicht, blaue Augen, blondes, von diversen juwelenbesetzten Nadeln und weiteren Bändern hochgehaltenes Haar. Die Frau drehte sich leicht zu einem letzten Abschiedsgruß an jemanden im Haus, sodass das Kleid sich bauschte, dann drehte sie sich erneut und trat auf den Hof. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die einzige Person, die noch kein Pferd oder Fahrzeug bestiegen hatte: einen Mann, so klein und gedrungen wie ein Mörser, in einem langen Mantel und Stiefeln, die von der Feuchtigkeit schwarz geworden waren. Sein Hut – ein riesiges Gebilde von einem Dreispitz, mit Goldborte eingefasst und mit Straußenfedern versehen – war ihm vom Kopf gefallen und krängte im Schnee wie ein auf den Strand gesetztes Flaggschiff. Seine Stiefelabdrücke und die von seinem Mantelsaum und der Scheide seines Floretts gezogenen Furchen bewiesen, dass er schon eine ganze Weile im Hof seine Kreise zog. Sein Blick war auf ein kleines Bündel gerichtet, das genau vor ihm durch die Luft flog.
    Die Frau im grünen Kleid bückte sich, um den vergessenen Hut aufzuheben, und schüttelte ihn, sodass sich ein Schneeschauer von den Straußenfedern löste.
    Das Bündel erreichte ein paar Fuß über dem bloßen Haupt des Mannes seinen Scheitelpunkt, schwebte dort ganz kurz und begann, abwärts zu beschleunigen. Er ließ es einen Moment lang frei fallen, schob dann die behandschuhten Hände darunter und bremste den Fall behutsam ab. Das Bündel kam – der Mann darübergebeugt wie ein Totengräber – nur eine Handbreit über dem Boden zum Stillstand. Ihm entfuhr ein Schrei, bei dem sich die Frau kerzengerade aufrichtete; doch der Schrei erwies sich lediglich als Vorspiel zu einem langgezogenen, gackernden Lachen. Die Frau entspannte sich, atmete aus und fuhr erneut hoch, als der Mann ein Juchzen austieß und das Bündel abermals hoch in die Luft warf.
    Irgendwann gelang es ihr, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ohne dass er das Baby fallen ließ. Hut wurde gegen Säugling getauscht. Sie stieg in die Kutsche, nachdem sie zuvor das Baby einer kleineren Frau gereicht hatte, die der üppigen gegenübersaß. Der Mann – obwohl wie ein vornehmer Herr gekleidet – kletterte auf einen erhöhten Sitz am hinteren Ende der Kutsche, der normalerweise von zwei Lakaien benutzt wurde, für einen Mann seiner Statur jedoch von
bequemer Breite war. Der Tross aus Pferden und Fahrzeugen fuhr hinaus auf den gefrorenen Fahrweg, der sich an der Oberkante der Kliffküste entlangschlängelte, und bog so ab, dass England und der Kanal rechts und Frankreich links lagen.
    Ein paar hundert Yards weiter fuhren sie ein Weilchen langsamer, damit die Frau im grünen Kleid durch das Fenster ein paar neue Feldschanzen begutachten konnte, die dort aufgeworfen worden waren: eine Futtermauer für zwei Mörser. Dann fuhren sie weiter, ein Dickicht von Beinen und ein Wirrwarr von Zügeln, schwarz vor dem frischen Schnee, der ihre Fahrgeräusche dämpfte und sie verschluckte, sodass einem Maler nichts darzustellen bliebe als eine leere Leinwand, und einem Schriftsteller nichts zu beschreiben als eine leere Seite.
     
    »Was es in Versailles außerdem noch gibt, sind Ärzte.« Die Stimme drang durch ein Gitter in der Rückwand der Kutsche.
    »Die haben wir auch an Bord unserer Schiffe reichlich, Mademoiselle.«
    »Ihr habt Barbiere. Die konsultiert Ihr nun seit Monaten und könnt immer

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