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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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unsichtbare Schwelle überschritten und war binnen weniger Herzschläge zu etwas Monströsem explodiert, das die Außenhülle des Hauses wie einen schlecht sitzenden Anzug trug. Es sog so viel Luft ein, dass es heulte, und es riss den Umstehenden Perücken und Mützen vom Kopf. Brennende Balken schossen wie Meteore in die Luft. Weiße Flammenwirbel bildeten sich, bekriegten sich, verbanden sich miteinander und wurden verschlungen. Der Boden summte. Flüsse von geschmolzenem Blei – denn das Haus war voll davon – ergossen sich auf die Straße und zogen in den Ritzen zwischen den Quadern glühende Netze, die sich im Abkühlen von gelb nach orange nach rot verfärbten. Ein paar Momente lang schien es, als könnte sich das Feuer binnen kurzem so weit ausbreiten, dass es ganz Amsterdam und in der Minute danach die gesamte holländische Republik verzehren würde. Aber es war von den dicken, gemauerten Brandschutzwänden zu beiden Seiten im Zaum gehalten worden. So eingepfercht war es fast schrecklicher, als wenn man ihm freien Lauf gelassen hätte, denn seine ganze Intensität war zwischen diesen Mauern konzentriert, anstatt sich ausbreiten und zerstreuen zu können.
    Nun waren Tränen etwas Wässriges, und so würde ein pedantischer Schulmeister vielleicht darauf beharren, dass sie dem Feuer wesensmäßig entgegengesetzt seien und von daher nichts mit diesem Element zu tun haben könnten. Doch so wie Eliza niemals weit von kleinen Feuern entfernt gewesen war, war sie auch niemals weit von Tränen entfernt gewesen. Überall gab es Kinder, und sie weinten ständig. Erwachsene taten es weniger oft, aber auch sie weinten, besonders Frauen. Im Banyolar von Algier, im Harim des Topkapi-Palastes und in verschiedenen europäischen Haushalten hatte Eliza die meiste Zeit in Gesellschaft von Frauen jeglichen Alters und jeglicher gesellschaftlicher
Stellung verbracht, und es war kaum einmal ein Tag vergangen, an dem sie nicht wenigstens einen Menschen ein bisschen schniefig und feucht um die Augen werden sah, sei es vor Schmerz, Wut, Traurigkeit oder Freude. Sich selbst erlaubte sie häufig auch, im stillen Kämmerlein ein, zwei Tränen zu vergießen, und seit der Geburt von Jean-Jacques tat sie es noch ungehemmter. Aber dieses Tränenvergießen glich eher Kerzenflammen oder Herdfeuern: Elementen häuslichen Lebens, beherrscht, nicht der Rede wert.
    Ab und zu hatte Eliza ein Weinen von ganz anderer Art gesehen: wilde, mit Haareraufen, Kleiderzerreißen und Rückenverkrümmen einhergehende Tränenwut. Ihr war das allerdings nie passiert, und sie kannte es im Grunde nicht, bis zu dem Abend, an dem sie zu der Koppel hinter den Stallungen des Herzogs von Arcachon auf dem Plateau von Satory hinunterging und sich Aug in Auge Pascha gegenüberstehen sah: einem Albino-Araberhengst, dem sie das letzte Mal vor elf Jahren an den Kais im Hafen von Algier begegnet war. Sie und ihre Mutter waren am Strand von Outer Qwghlm von einer auf Küstenraub ausgehenden Galeere der Barbarei-Korsaren gefangen genommen und in die Sklaverei entführt worden; kurz darauf hatten sie jedoch erfahren, dass die Korsaren gemeinsam mit einem christlichen Schiff operierten. Denn sie waren während der gesamten Fahrt nach Algier in einer dunklen Kabine von einem unbeschnittenen Mann mit weißer Haut molestiert worden, der gern verfaulten Fisch aß. In Algier abgeliefert, hatte man sie einem Banyolar zugewiesen, und sie waren zu Vermögenswerten irgendeines Geschäftes dort geworden, von dem nicht sehr viel zu erfahren gewesen war, außer dass es bestimmte Güter – einschließlich Sklaven – aus der Christenheit importierte und im Austausch dafür Seide, Parfüm, Klingen, Delikatessen, Gewürze und andere Luxusgüter des Orients exportierte. Als Eliza in die Pubertät gekommen war, hatte man sie im Tausch für diesen Hengst nach Konstantinopel verkauft – obwohl der Austausch nach dem, was der Herzog gerade behauptet hatte, sehr viel komplizierter gewesen war, was dem Schaden noch den Spott hinzufügte, da es implizierte, dass Eliza, für sich genommen, nicht so viel wert war wie das Pferd. Damals hatte sie sich geschworen, den übelriechenden Mann in der dunklen Kajüte eines Tages zu finden und zu töten. Da die Christenheit ein weitläufiger Ort war – Frankreich allein hatte zwanzig Millionen Einwohner -, hatte Eliza angenommen, dass es eine Weile dauern könnte, den Schurken zu finden.

    Die Leichtigkeit, mit der sie es geschafft hatte, hatte sie auf dem

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