Cool Hunter
Hobby betrieb, wenn man in ihrem Fall nicht sogar von einer Art Berufung sprechen konnte. Es war ihr erklärtes Lebensziel, die Hersteller von MP3-Playern, Handys und anderen elektronischen Geräten dazu zu bringen, sich den Gesetzen des einzig wahren guten Designs zu unterwerfen: klare Linien, ergonomische Knöpfe und sanft pulsierende LEDs.
»Du warst schon lang nicht mehr hier, Hunter«, stellte Lexa fest und warf Jen einen vielsagenden Seitenblick zu.
»Ja, na ja … der Sommer, du weißt schon.«
»Hast du die Mail bekommen, die ich dir in Sachen SHIFT geschickt hab?«
»Äh, ja, hab ich.«
Noch ein Einschub zum Thema sonderbar : Ein mit Lexa befreundeter Innovator hatte die Theorie entwickelt, Großbuchstaben würden bald ein Comeback erleben. Er war der Meinung, all die Cyberkids, die noch nie in ihrem Leben die Shift-Taste benutzt hatten (außer um bestimmte Sonderzeichen zu tippen), würden bald anfangen, Sätze wieder mit Großbuchstaben zu beginnen und vielleicht sogar ihre Vornamen und andere Eigennamen mit großen Anfangsbuchstaben zu schreiben. Lexa glaubte zwar nicht, dass diese Zeitenwende tatsächlich unmittelbar bevorstand, war aber entschlossen, alles zu tun, um diesen Prozess zu beschleunigen. Sie und ihre Freunde waren überzeugt davon, dass typographische Faulheit auf lange Sicht zur Zerstörung unserer Kultur führen würde. Jede Form von Schlamperei bedeutete in ihren Augen den Tod.
Auch wenn mir die Feinheiten dieser Theorie nicht ganz klar waren, hatte ich verstanden, dass das Konzept von SHIFT
darin bestand, dass man nur genügend Trendsetter aktivieren musste, die anfingen, in ihren Mails, Blogs und Postings Großbuchstaben zu verwenden, damit die Herdentiere folgten.
»Du hast dich noch nicht als Follower eingetragen, oder?«
Ich räusperte mich. »Ich bin, was die SHIFT-Sache angeht, eher Agnostiker.«
»Willst du damit sagen, du zweifelst daran, dass Großbuchstaben überhaupt existieren?« Lexa neigte manchmal dazu, Aussagen allzu wörtlich zu nehmen.
»Nein, das nicht. Ich hab sogar schon mit eigenen Augen welche gesehen. Ich weiß nur nicht, ob es notwendig ist, gleich eine Bürgerbewegung …«
»Wovon redet ihr eigentlich?«
Lexas Augen leuchteten, weil sie die Möglichkeit witterte, jemanden zu konvertieren. »Ist dir schon mal aufgefallen, dass kein Mensch mehr Großbuchstaben benutzt? Alle schreiben nur noch einen einzigen kleingeschriebenen Buchstabensalat, bei dem keiner weiß, wo die Sätze anfangen und wo sie aufhören. «
»Und ob mir das aufgefallen ist. Eine ganz üble Marotte.«
Lexas zahnseidengereinigtes Lächeln überstrahlte den rosigen Schein des künstlichen Kaminfeuers. »Cool. Dann musst du unbedingt bei SHIFT mitmachen. Gibt mir mal deine Mailadresse. «
»Ähem, Lexa, darf ich kurz unterbrechen?«
Lexa hatte bereits ihr Handy aus der Gürteltasche gezogen, um Jens Kontaktdaten aufzunehmen.
»Wir sind nämlich wegen was Wichtigem hier.«
»Schon okay, Hunter.« Sie steckte das Gerät widerstrebend wieder weg. »Was gibt’s?«
»Mandy ist verschwunden.«
Lexa verschränkte die Arme vor der Brust. »Verschwunden? Definiere.«
»Wir waren eigentlich heute Vormittag in Chinatown mit ihr verabredet«, erzählte ich. »Aber sie ist nicht aufgetaucht.«
»Habt ihr schon versucht, sie anzurufen?«
»Haben wir – und dadurch haben wir das hier gefunden.« Ich hielt Mandys Handy hoch.
»Das ist ihres«, erklärte Jen. »Es lag in dem verlassenen Haus, vor dem wir auf sie gewartet haben.«
»Das klingt echt ein bisschen unheimlich«, gab Lexa zu.
»Mehr als nur ein bisschen«, sagte Jen. »Auf dem Handy ist ein Foto. Es ist total verschwommen, aber irgendwie beunruhigt es uns. Wir glauben, dass ihr was passiert sein könnte.«
Lexa streckte die Hand aus. »Darf ich mal?«
»Auf diese Frage hatten wir gehofft.«
Lexas superprofessionelle cinematografische Hardware anzuwerfen, um sich ein knapp handtellergroßes Digitalfoto anzuschauen, war in etwa so, als würde man in ein Space Shuttle steigen, um mal eben zum Imbiss an der nächsten Straßenecke zu düsen. Aber diese Unverhältnismäßigkeit zahlte sich aus.
Auf dem gigantischen Flachbildschirm wirkte Mandys letztes Foto noch hundertmal unheimlicher. Jetzt konnten wir endlich auch erkennen, worum es sich bei dem blendend weißen Streifen in der Ecke handelte. Es war der Spalt zwischen den Sperrholzbrettern, durch den Sonnenlicht hereinfiel. Das Foto war offensichtlich nur ein paar
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