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Cop

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Titel: Cop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Jahn
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aber umbringen kann sie die alte Frau nicht. Doch sie kann ihr in den Arm oder ins Bein stechen, sie kann ihr so starke Schmerzen zufügen, dass sie die Treppe nicht mehr raufkommt, dass sie nicht hinter ihr herlaufen oder Henry anrufen kann. Ja, das würde sie fertigbringen, wenn sie dafür hier rauskäme.
    Sie legt den Daumen auf die Spitze. Ziemlich scharf, genau wie die Innenkante – zu scharf, um die Scherbe einfach in die Hand zu nehmen und anzugreifen. Sie würde sich nur selbst die Finger aufschlitzen. Außerdem will sie nicht so nah an Beatrice heranmüssen. Also braucht sie einen Griff.
    Ihr Blick wandert durch den dunklen Keller, über die Matratze mit den Decken, die Pappkiste mit ihren paar Kleidern und den Büchern, die Donald ihr heimlich gebracht hat (Maggie hat sie alle mindestens dreimal gelesen), über das Waschbecken, an dem sie sich wäscht, die Saugglocke, die daneben auf dem Boden liegt (falls der Abfluss mal verstopft ist), die Kartons mit dem Weihnachtsschmuck, den alten Klamotten, den Cowboyromanen und den Heften mit den nackten Frauen. Die Cowboyromane hat sie alle verschlungen, vor allem weil am Schluss immer die Guten gewinnen; die Hefte hat sie alle durchgeblättert, denn zwischen den Schmuddelbildern finden sich manchmal gute Sachen zum Lesen.
    Sie geht zum Waschbecken, hebt die Saugglocke auf und versucht, den Stiel herauszuziehen. Es klappt nicht, er bewegt sich keinen Millimeter. Vielleicht kann sie ihn herausschrauben? Zunächst dreht sie ihn rechts herum, aber erst als sie es in der anderen Richtung probiert, kommt sie voran. Nach vier Umdrehungen gegen den Uhrzeigersinn löst sich der Stiel aus der schwarzen Gummiglocke. Hoffentlich verstopft der Abfluss nicht vor ihrer Flucht. Sonst wird Henry merken, dass der Stiel fehlt, und natürlich weiß er dann sofort, dass sie was im Schilde führt. Oder er wird zumindest Verdacht schöpfen, was auf dasselbe hinausläuft. So oder so wird er dastehen und sie anstarren und sich immer stärker aufregen, sein Gesicht wird rot anlaufen, seine Nasenflügel werden beben und sich aufblähen, seine Fäuste werden sich öffnen und schließen, öffnen und schließen, öffnen und schließen. Zwischendurch wird er in seine Hemdtasche greifen und eine Rolle dieser komischen Dinger herausziehen, die er immer isst, und sich eins davon in den Mund drücken und es zerkauen. Dann wird er sie fragen, was das soll, was sie vorhat, aber egal was sie antwortet, er wird ihr ins Gesicht schreien, dass sie eine dreckige Lügnerin ist. Und irgendwann, wenn er richtig wütend ist, wird er sich auf sie stürzen. Sie wird versuchen wegzurennen, aber er wird sie packen, wird sie auf den Boden schleudern und ihr in die Magengrube treten. Ihr wird die Luft wegbleiben, und er wird wieder und wieder zutreten, während sie auf sein knallrotes Gesicht blickt, bis endlich Dunkelheit über sie kommt. Wenn sie aufwacht, wird sie mit blutenden Handgelenken am Bestrafungshaken hängen. Und natürlich wird er ihre Waffe gefunden haben, er wird auf sie zugehen und die Waffe schwenken, und dabei wird er lächeln, ein Lächeln voller Bosheit.
    Eins zwei drei vier fünf sechs sieben acht. Eine Zeit lang hat sie versucht, rückwärts zu zählen, damit sie gleich mit richtig großen Zahlen anfangen kann, mit Zahlen, die ihren ganzen Kopf ausfüllen. Doch dabei hat sie immer das Gefühl gehabt, am Ende würde etwas Schreckliches passieren. Fünf … vier … drei … zwei …
    Sie öffnet eine Kiste mit Lumpen und zieht ein verwaschenes, zerfetztes T-Shirt heraus. Der Stoff riecht nach Henry, nach seiner ganz eigenen Mischung aus Knoblauch, Schweiß, Bier und Bleichmittel. Der Gestank schnürt ihr die Brust ein, sie kann kaum noch atmen, und ihr Mund ist trocken. Mit etwas Anstrengung gelingt es ihr, den Stoff in Streifen zu reißen. Dazu muss sie immer wieder die Zähne zu Hilfe nehmen. Bald tut ihr das Zahnfleisch weh, und Blut und Speichel färben das schmutzige Weiß des Stoffes rosa. Aber wenn sie sich erst durch das Bündchen gebissen hat, kann sie die Streifen einfach herunterziehen. Als sie ein paar Stofffetzen zusammenhat, bindet sie die Scherbe mit mehreren Umwindungen an den Stiel und knotet sie fest; damit die Klinge nicht nach unten rutscht, wickelt sie einen weiteren Streifen knapp unterhalb der Scherbe um den Stiel und dann in einem X um deren Basis. Am Schluss sitzt die Scherbe bombenfest, sie wackelt kaum noch. Das Porzellan würde eher zerbrechen, als sich vom Stiel zu

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