Cop
zerstreuen.
Auf der Strecke von Fort Stockton nach Sierra Blanca wird das Land immer karger, und es gibt kaum noch Verkehr. Verstreute Felsformationen zeichnen sich am Horizont ab, davor erstreckt sich eine spärlich bewachsene Steppe, flach wie ein Blatt Papier.
Während Ian das Panorama betrachtet, die eine Hand am Lenkrad, mit der anderen die Barbecue-Chips und die zweite Hälfte des trockenen Sandwichs in sich hineinstopfend, muss er wieder daran denken, wie ungeheuer alt dieses Land ist. Als er mit der Highschool fertig war, schickte ihn seine Mutter, die Dads Selbstmord immer noch nicht verkraftet hatte, auf eine lange Tour durch Europa. Er war in London, in Paris (wo er seine erste Frau kennenlernte) und in Rom. Inmitten dieser Ansammlung von Geschichte kam er sich seltsam vor, weil er aus einem derart jungen Land stammte. Er fühlte sich wie ein Waisenkind, das keine eigene Geschichte vorzuweisen hatte. Der Fluch des gesichtslosen Amerikaners: ewig dazu verdammt, ein Kind des Nirgendwo zu sein. In Amerika fängt man bei null an, man arbeitet sich aus eigener Kraft hoch, selbst die Stiefelschlaufen, an denen man sich aus dem Sumpf zieht, muss man sich selber schustern. Andernfalls geht man unter. Glaub ja nicht, du könntest auf den Werken derer aufbauen, die vor dir da waren, denn in diesem Land gibt es kein Davor. Was für ein Unsinn. William Burroughs hatte recht: Amerika ist kein junges Land. Amerika ist ein altes, schmutziges, böses Land. Millionen Jahre hat es gewartet, still und unauffällig, bevölkert nur von Tieren, die bloß eine Sprache kannten: fressen und gefressen werden. Es hat gewartet, eine uralte, verkrustete Masse. Bis irgendwann, vor zwanzig-, dreißigtausend Jahren, die ersten Menschen eintrafen. Und trotzdem blieb das Böse, gefangen in der fruchtbaren Erde. Doch als die Europäer an der Ostküste anlegten und ihre Flaggen in den Boden rammten, befreiten sie das Böse. Es verbreitete sich über das ganze Land, es verseuchte das Wasser und die Pflanzen, die mit ihren Wurzeln davon tranken, es verseuchte Gemüse und Getreide. So gelangte das Böse in die Nahrung und schließlich in die Menschen.
Ian wirft sich den letzten Bissen Sandwich in den Mund und spült ihn mit einem Schluck Wasser herunter.
Kurz vor Sierra Blanca beschließt er, einen Zwischenstopp einzulegen und sich eine Cola zu kaufen – vor allem um zu überprüfen, ob ihm der graue Dodge Ram weiter folgt. In Sierra Blanca ist deutlich weniger los als in der Stadt davor; sollte das da hinter ihm tatsächlich Henry Dean sein, kann er der Sache vielleicht hier ein Ende bereiten. Als er vom Interstate auf die El Paso Street abfährt, wirft er einen Blick in den Rückspiegel. Weit hinten erkennt er den Dodge Ram, ein Glitzern am Horizont. Also sollte auch sein Wagen gerade so zu sehen sein.
Er fährt an einem brachliegenden Grundstück vorbei, dann an einer Feuerwache mit einem roten Löschfahrzeug in der Garage und einem Schild vor der Garagentür: Einfahrt frei halten. Neben einem leeren Parkplatz muss er an einem Stoppschild halten. Keine Autos weit und breit, nur in der Ferne bräunliche Hügel, die knapp über dem Boden zu schweben scheinen. Er nimmt den Fuß von der Bremse. Auf der rechten Straßenseite steht ein Gebäude im Kolonialstil, gegenüber, links von ihm, ein verwitterter Schuppen, wo EIS und COCA-COLA angeboten werden. Schweiß tropft ihm von den Schläfen. Ein Eis könnte er jetzt gebrauchen.
Noch ein Blick in den Rückspiegel. Die Straße hinter ihm ist leer.
Wäre ihm der Pick-up in die Stadt gefolgt, hätte er inzwischen eigentlich auftauchen müssen. Also war es vielleicht doch nur ein Zufall. Außerdem besitzt Dean gar keinen grauen Dodge Ram. Gut, selbst der letzte Idiot wäre mittlerweile auf die Idee gekommen, den Wagen zu wechseln, und auch wenn Henry vielleicht nicht sehr gebildet ist – im Sinne von »belesen« –, hält Ian ihn keineswegs für einen Idioten. Im Gegenteil, er besitzt eine messerscharfe Intelligenz. Und die setzt er ohne Skrupel für seine Zwecke ein.
Neben dem kleinen Supermarkt liegt ein Lokal namens Best Café, ein Häuschen mit Holzschindeln auf dem Dach und Tischen mit rot-weiß karierten Decken auf der betonierten Veranda. Dann kommen ein Motel und eine unbebaute Fläche mit einem alten Waggon der Southern Pacific in der Mitte, anschließend die historische Sierra Lodge und ein in Türkis gehaltener Souvenirladen mit einem Dr-Pepper-Automaten vor der Tür und einer
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