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Copyworld: Roman (German Edition)

Copyworld: Roman (German Edition)

Titel: Copyworld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Szameit
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sehnig und ausgezehrt,
dadurch erscheint Hyazinth noch kleiner, doch ist der vermeintliche Verlust an
formendem, die Ecken und Kanten des Leibes rundenden Bindegewebes in der
Umwandlung zu steinernen Muskelsträngen mehr als wettgemacht. Was früher unter
weicher, glättender Haut verborgen geblieben wäre, ist heute sichtbares Zeichen
seiner Meisterschaft: Wenn er in einer der klassischen Posen des Sigmatanzes
erstarrt und von den Füßen her die Wärme der tänzerischen Botschaft das zu Eis
gefrorene Abbild schmilzt, in sanften Wellen durch seine Muskulatur pulst als
Flamme, Woge oder Wirbel – dann spätestens liegt der Saal zu seinen Füßen…
    Die Lehrzeit bei Choreut   Desmin war die reine Hölle. Oft hatte er sich
nach seinem Freund und Lehrer Opal gesehnt, nach dessen Verständnis und Liebe.
Desmin zwang Hyazinths Körper und Willen unnachgiebig in das strenge Regelwerk
des Sigmatanzes. Manchmal war die Ehrfurcht so mächtig in Hyazinth, wenn der
ausgemergelte alte Mann schwerelos wie eine Feder schwebte oder mit der Macht
eines wütenden Sauriers den Boden stampfte, daß er verzagen wollte im
Bewußtsein seiner geringen Begabung. Sechzehn Stunden täglich peitschten die
Sigmawellen seinen Körper und seine Empfindungen, aus tölpelhaftem Stolpern
wurde mit der Zeit staksiges Schreiten, schließlich menschlicher Gang – wie
Desmin es spöttisch nannte. Das war die schlimmste Zeit: Als er Bewegungen
erlernen und vor allem begreifen mußte, die ihm bisher als alltäglich galten.
    “Nimm diesen Stock”, hatte Desmin
einmal gesagt, und: “Du schlägst deine Klaue um das Ding als wärst du ein
Neandertaler, der seinen Knüttel zückt… Nimm ihn wie etwas unsagbar
kostbares… nicht doch, du Esel, so umklammert ein pubertierender Jüngling
seinen Penis! Faß zu als sein in diesem Stock dein Leben eingeschlossen…”
    Desmin machte es vor, und
Hyazinth war entzückt von der Gewalt der einen Geste.
    “Jetzt packe ihn wie ein
Schwert!”
    In unzähligen Selbstspielen hatte
Hyazinth mit der Hand des Helden die Waffe aus der Scheide gezogen, aber auch
diesmal rügte ihn Choreut   Desmin.
    “Hätte Aeneas seine Klinge derart
geringschätzig gehandhabt – Rom wäre nie ein historisches Ereignis
geworden. Schau her!”
    In der scheinbar leichten
Bewegung ahnte Hyazinth bereits den tödlichen Streich, es war als sauge das
funkelnde Eisen die Seele aus dem Körper des Meisters – und Hyazinth sah
tatsächlich Eisen in der Hand des alten Mannes, wo doch nur ein simpler
Holzstock durch die Luft ruderte.
    Unzählige Male klatschte diese
Gerte auf seinen Rücken, als Desmin tänzerische Mimik unterrichtete. In diesen
Wochen lernte Hyazinth das eigene Gesicht zu hassen. Er mußte die Augen rollen
und mit den Brauen zucken, Grimassen wie ein Geisteskranker schneiden, und viel
hätte nicht gefehlt, und er hätte wirklich Schaden am Verstand genommen. Der
Blick in den Spiegel – einst beinahe wollüstiges Erlebnis – wurde ihm zur
Tortur.
    Eines Tages forderte der
Tanzmeister: “Sei traurig!”
    Inzwischen hatte Hyazinth längst
begriffen, daß es sich um die Darstellung einer elementaren Gemütsregung
handelte, und er wählte eine bescheidene Geste, ließ sie in einer
unausgesprochenen Frage gipfeln.
    “Gut”, sagte Desmin. “Fast schon
sehr gut. Du hast das erste Mal über das Äußere hinaus gestaltet. Du zeigst mir
die ausweglose Suche nach dem Grund des Elends, das dich trauern läßt. Ich
belohne dich mit zwei Stunden Urlaub.”
    Hyazinth war hinausgerannt nach
Weltenstein, überglücklich nach Monaten der Abgeschiedenheit endlich wieder
Menschen sehen zu dürfen.
    Was er schaute war tausendfach
und großartig. In der Hast eines einsamen Mannes entdeckte er Zweifel und
Sehnsucht nach der Partnerin, im heftigen Geschnatter junger
Märtyrerschülerinnen hörte er den unerbittlich geführten Kampf um oberste
hierarchische Positionen, ein flüchtiger Frauenblick verriet ihm Lüge und
Eigensucht – überall fand er Zeichen, Fragen und Antworten in den Gesten der
Menschen. Erst in diesen zwei Stunden verstand er seine Berufung. Ziellos
wanderte er durch Weltenstein, saugte Gesichter und Bewegungen gierig auf,
entdeckte tausende Schicksale, und unwillkürlich setzte er das Erlebte in
derselben Sekunde mit dem noch bescheidenen Repertoire seiner tänzerischen
Mittel in eine Etüde um – bis ihm ein grober Kerl ärgerlich die Faust gegen die
Rippen stieß, weil er sich neben ihn stellte, ebenso nachdenklich in

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