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Coq 11

Coq 11

Titel: Coq 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillou
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nicht unbesiegbar waren. Seine Kindheit war recht harmonisch verlaufen, denn als Kind dachte man über materielle Dinge anders. Ein Flüchtlingslager war nur eine große arme Stadt mit übervollen Schulklassen, in denen manche Schüler besonders fleißig – so wie Hassan – und manche weniger fleißig waren. Seine Schulzeit war eine glückliche Zeit. Morgens wurde als erstes Biladi gesungen, die palästinensische Nationalhymne. Wenn es im November zu regnen begann, legte sich ein dicker Geruch nach nasser Wolle und Lehm über das Lager, aber schon im Februar kam der Frühling, und wenn man ein Kind war, sah man eigentlich nur den Alltag, man wusste nicht, dass man unglücklich sein musste, man dachte nicht darüber nach, dass man ein Flüchtling war, die Schulklassen überfüllt waren, man oft nur Sardinen und ägyptischen Reis zu essen bekam und dass der Reis in einer großen Blechdose gekocht wurde, die einmal fünf Liter Olivenöl enthalten hatte.
    1985, er war dreizehn, war das Land besetzt und wurde ständig von israelischen Bombern angegriffen. Warum die Israelis Nabatieh angriffen, verstand er nicht, hatte aber später dann gedacht, dass es wahrscheinlich die Rache für irgendeine Racheaktion gewesen war, wie immer.
    Von den zweitausend Lehmhäuschen in ihrem Teil des Lagers wurden nur drei von den Splitterbomben getroffen. Damals hatten die Israelis noch keine Hellfire-Raketen, sondern warfen ihre Bomben aus Flugzeugen ab. Mit der Treffsicherheit war es natürlich nicht weit her, aber vielleicht spielte das in der Logik der Rache ja auch eine untergeordnete Rolle. Ob mit Absicht oder aus Zufall, das Haus seiner Familie war jedenfalls getroffen worden. Viel war davon nicht übrig. Alle anderen Familienmitglieder waren zu Hause gewesen. Er selbst kam mit hängender Zunge angerannt, weil er viel zu lange bei einem Spielkameraden geblieben war und nun zum zweiten Mal in der Woche eine Tracht Prügel von seinem Vater bekommen würde. Die Mittagszeit war heilig. Neun Personen muss man auf einmal abfüttern. Wenn es Essen gab, gab es Essen.
    Seine Mutter war noch am Leben und wurde mit dem ersten Rettungswagen abgeholt, weil sie hochschwanger war. Er erin­nerte sich ganz deutlich, dass das Blut auf ihrem langen, schwar­zen, mit Blumen bestickten Kleid kaum zu sehen war. Sie war so stolz auf das Muster gewesen, das aus ihrem Heimatdorf in Galiläa stammte.
    Die israelischen Splitterbomben wurden damals aus einer besonders brüchigen Metalllegierung gebaut, die wie Messing aussah. Die äußere Hülle der Bombe zersplitterte in Tausende von Nadeln, die man nicht aus einem menschlichen Körper herausoperieren konnte, weil sie zerbrachen, sobald man sie mit einem chirurgischen Instrument zu greifen versuchte. Ein lang­samer Tod. Damit wurde wahrscheinlich beabsichtigt, die medizinische Versorgung des Feindes möglichst lange zu bin­den. Seine Mutter brauchte zehn Stunden, um zu sterben. Auch ihr Kind konnte nicht gerettet werden. Man sagte ihm, es wäre eine kleine Schwester geworden. Die vier anderen Familienmitglieder, die beim Eintreffen des Rettungswagens noch am Leben gewesen waren, starben ebenfalls. Vater und Bruder einige Stunden vor der Mutter, die zwei Schwestern einige Stunden nach ihr.
    Al-Fatah, zur damaligen Zeit die größte Befreiungsbewegung, kümmerte sich um ihn. Er wuchs in einem ihrer Kinderheime auf, wo man so manches lernte, was nicht zum Lehrplan im von der UNO organisierten Schulunterricht in den Lagern gehörte. Klaschinkow, wie jedes Kind die AK-47 Kalaschnikow nannte, war damals das allgemeingültige Symbol für Freiheit. Auf Bildern und Plakaten wurde sie meist von einem braun gebrannten, muskulösen Arm gen Himmel gestreckt.
    Da er besser schwimmen und tauchen konnte als alle anderen, war der Weg zum Ramleh-Gefängnis vorgezeichnet.
    Die Fatah wollte eine kleine U-Boot-Flotte aufbauen. Schließlich konnte man schlecht von der libanesisch-israelischen Grenze nach Israel tauchen. Vor allem, seitdem Israel den ganzen Südlibanon besetzt hatte. Man brauchte kleine Unterwasserfahrzeuge, Mini-U-Boote sozusagen.
    Im Nachhinein hielt er die Idee immer noch für gut, fand aber, dass man sich nicht gut genug vorbereitet hatte. Man hatte das Ziel nicht ausreichend ausspioniert und die Sicherheitsvorkehrungen vernachlässigt. Das war genau die Mischung aus Non­chalance, Opferbereitschaft und Fatalismus, die in der Wider­standsbewegung vorherrschte. Weshalb hätte es in der Flotte anders sein

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