Cosm
Mundwerk waren schuld an der Misere. Sie war kein Opfer; für ihre Schwächen war sie selbst verantwortlich.
Nun gut, vielleicht hatte Max das Große Problem tatsächlich erkannt, vielleicht sah er auch nur, was sich nach außen hin manifestierte – aber genau das hatte sie doch immer gewollt, ein objektives Bild von sich selbst.
Max der Scharfsichtige. Die Anspielung auf Gary Cooper war ihr nur so herausgerutscht, und das wahrhaftig nicht zum ersten Mal, und er hatte sich mit der Bemerkung über ihr Mundwerk revanchiert, mit dem sie sich schützen wolle oder so ähnlich, im Moment ging alles etwas durcheinander. Warum eigentlich? dachte sie, dann dachte sie wieder an Max – etwas stimmte nicht mit diesem Mann – und auf einmal senkte sich die Leere dieser Nacht abermals wie eine Zentnerlast herab und begrub sie unter sich.
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»Ich könnte in eine Nußschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermeßlichem Gebiet halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.«
- HAMLET
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1 Die Verlegung des Cosm ins Observatorium erschien zunächst nicht weiter schwierig, nahm aber insgesamt mehr als vier Wochen in Anspruch. Man schwimme wie durch Schlamm, sagte Alicia zu Jill, nur werde man im Schlamm möglicherweise seine Falten los, während man von all dem Papierkram noch neue dazubekomme.
Allein die Formalitäten zogen sich eine volle Woche hin. Auch die Sicherheitsabteilung verlangte natürlich jede Menge zeitraubender Maßnahmen. Unzählige elektronische Diagnostiken mußten abgebaut, verpackt und im Observatorium mit allen Kabeln und Gehäusen auf kleinerem Raum wiederaufgebaut werden.
Endlich war der große Augenblick gekommen, und ein Kran zog den U-Magneten hoch. Alicia hielt den Atem an, als der Cosm in seinem Magnetgefängnis zu erzittern schien. Doch dann fuhr der Kran mit schrillem Gewinsel auf die Laderampe hinaus und setzte seine schwere Last auf der Pritsche eines UCI-eigenen Spezialtiefladers ab. Der Umzug dauerte den ganzen Tag, und in dieser Zeit aß Alicia keinen Bissen und nahm auch keine Anrufe entgegen, sondern lief nur nervös herum und kontrollierte jedes Detail doppelt und dreifach. Als der U-Magnet endlich, umgeben von seinem Hofstaat elektronischer Diagnostiken, wie ein dicker König in seiner Nische thronte, brach sie zusammen. Jill und Max schleppten sie in ein Restaurant ab, und bald waren sie alle drei leicht beschwipst.
Alicia und Jill begannen, in Erinnerungen zu schwelgen und Max mit Geschichten über längst vergangene Modetrends zu unterhalten; über Filmkomödien, deren Helden sie immer noch mit Namen kannten, und die ihnen vertrauter waren als ihre eigenen Schulkameraden; über verrückte Frisuren, die sie ausprobiert hatten, um dann zu hoffen, daß das Haar im Lauf der Wochenendes wieder nachwachsen würde; über irgendwelche mickrigen Typen, die Tabak oder Kaugummi kauten; über Mädchen, die sich durch sämtliche Betten schliefen, schwanger wurden und sich plötzlich als leidenschaftliche Abtreibungsgegner gebärdeten; über trägerlose Kleider, die gnadenlos ins Fleisch kniffen; über Helen, die ihre Nase nicht hoch genug tragen konnte und dafür büßen mußte, als sie bei einer großen Party in einen Swimmingpool fiel; über Filmnächte, von denen man den größten Teil versäumte, weil man sich zwischendurch einen Imbiß holte oder so übermüdet war, daß man nur noch kichern konnte. Im Rückblick erschien das nun alles in den rosigsten Farben und sehr viel komischer, als es in Wirklichkeit je gewesen war.
Max bewahrte Haltung und steuerte sogar selbst ein paar Anekdoten bei. Doch im Grunde wußten sie alle drei, daß die letzten Wochen nur eine Zwischenphase darstellten; für Max und Alicia bedeutete dieser Abend ein Ende der von der UCI verhängten Zwangspause. Wenn sie recht hatten und der Cosm tatsächlich ein Fenster in ein anderes Universum war, würde es in den kommenden Wochen so ungeheuer viel zu sehen geben, daß sie für Mußestunden wie diese so schnell wohl keine Zeit mehr erübrigen konnten.
Am nächsten Morgen brachte Alicia zunächst ihre Physik 3-B Vorlesung so gut wie möglich hinter sich, danach hatte sie den Tag zur freien Verfügung. Die Unordnung in ihrem Büro hätte sich fast schon als Einrichtungsstil Marke ›Eifrig Forschender Naturwissenschaftler‹ vermarkten lassen: freie Flächen waren unweigerlich dazu verdammt, als provisorische Ablage genütztzu werden und jedes Dokument versank wie ein Fossil
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