Crossfire 2: Feuerprobe
kamen,
all diese ehrbaren und eingeschüchterten Leute, die die Reise
nach Greentrees riskiert hatten, schwelgten einfach nur in den
Annehmlichkeiten dieser Welt. Aber deine Generation wurde hier
geboren und weiß nicht mehr viel von der Erde, und die
Generation nach euch, die von Yat-Shing Wong, weiß noch
weniger. Und es kümmert sie auch nicht. Ihr unterrichtet so gut
wie keine Geschichte in euren Schulen, keine Traditionen, keinen
Patriotismus.«
»Es gibt so viele nützliche Dinge, die man vermitteln
muss…«, wandte sie ein.
»Das weiß ich. Und die Jungen interessieren sich nicht
von sich aus für das Alte. Also habt ihr beinahe keine
öffentlichen Gepflogenheiten: keine prunkvollen Umzüge,
patriotischen Märsche, Staatsbegräbnisse für wichtige
Persönlichkeiten. All diese Dinge sind aber nicht ohne Belang
und Sinn, Alex. Sie schaffen einen Zusammenhalt zwischen den
unterschiedlichsten Gruppen einer Gesellschaft. Und das ist auch
notwendig, denn die ethnischen und religiösen Gruppen auf
Greentrees sind nun einmal sehr unterschiedlich: Quäker,
Araber, Chinesen…«
»Ja. Aber eine tote Vergangenheit…«
»… kann man in den Dienst der Lebenden stellen. Ihr
kämpft gegen die stärkste Kraft, die die Menschheit kennt,
Alex: Evolution.«
»Evolution?« Sie war erneut verwirrt.
»Die Menschheit hat sich zur Zusammenarbeit in Gruppen
entwickelt, weil diese Zusammenarbeit einer Gruppe einen Vorteil
über andere Gruppen verschafft. Mit diesem Vorteil kann man sich
einen größeren Anteil an den Ressourcen sichern, seinen
Besitz besser beschützen, besser überleben. Jede
Zusammenarbeit dient einem Wettbewerb. Und wann immer es einen
Wettbewerb gibt, gibt es Gewinner und Verlierer. Manche dieser
Verlierer sind schlechte Verlierer. Es steckt in unseren Genen.
Wenn man also viele unterschiedliche Gruppen zur Kooperation
bewegen will, kann man ihnen nicht einfach sagen, dass sie gemeinsame
Interessen haben. Früher oder später werden sich
nämlich ihre Interessen auseinander entwickeln, wenn eine oder
zwei Gruppen mehr bekommen als die anderen. Ein dauerhafter
Zusammenhalt entsteht nur, wenn man eine Gemeinsamkeit schafft, die
größer ist als die gegenwärtigen Interessen. Dieses
Etwas ist eine gemeinsame Vergangenheit, mit all der Geschichte, dem
Stolz und dem Prunk, der dazugehört.«
Diese Gedanken waren neu für Alex. Sie dachte darüber
nach. Es hörte sich richtig an, aber…
»Es klingt gefährlich«, stellte sie fest.
»Das ist es. Stolz und Geschichte können missbraucht
werden. Aber sie sind nicht so gefährlich wie
Unwissenheit.« Julian Martins Stimme klang grimmig, als er
hinzufügte: »Oder Krieg.«
»Wir bereiten uns auf einen Krieg mit den Pelzlingen vor,
nicht auf einen Krieg gegeneinander!«
»Ja. Das erste Ziel muss sein, einen Krieg vollständig
zu vermeiden. Ein guter Anführer tut, was er kann, um Leben zu
schützen. Wenn man einen Krieg nicht vermeiden kann, wäre
die nächstbeste Möglichkeit, ihn so weit wie möglich
zu begrenzen. Man sollte alles tun, um ihn so klein wie möglich
zu halten und ihn so rasch wie möglich zu beenden.«
»Das verstehe ich«, sagte Alex. Sie fühlte sich
plötzlich eingeschüchtert. Er wusste so viel, hatte so viel
erlebt, und sie war genau das, was er über die Menschen von
Greentrees angedeutet hatte: unwissend. Sie blickte beiseite, zu dem
Fenster, gegendas der Regen prasselte.
»Während des Ersten Punischen Krieges«,
erklärte Julian ruhig, »überzeugten die Isolationisten
den römischen Senat davon, dass nur der Adel den Krieg wollte,
aber nicht die einfachen Leute. Das Ergebnis war, dass Rom zu
spät handelte. Als es schließlich handelte, blieb als
einzige Möglichkeit der totale Krieg. Ein Großteil von
Italien wurde verwüstet. Ich möchte nicht, dass so etwas
auf Greentrees geschieht, weder durch diePelzlinge noch durch
Rebellen. Nicht hier, Alex! Wissen Sie, was Bürgermeister Shanti
während dieser Versammlung gedacht hat?«
»Ashraf? Eigentlich nicht.«
»Sicherheitschef Davenport? Amelie Lincoln? Selson Childers?
Ismail Shanab? Yi Zhang?«
Sie kannte die Namen und die Familien dieser Leute, ihre
Anträge auf Zuteilungen. Aber was dachten sie? Alex
schüttelte den Kopf.
»Das sollten Sie aber. Das müssen Sie. Ein guter
Anführer weiß stets, was jede einzelne Person bei jeder
einzelnen Versammlung denkt – immer.«
»Das ist unmöglich!«
»Sie können dem näher kommen, als Sie glauben. Es
erfordert nur Wissen,
Weitere Kostenlose Bücher