Cruzifixus
immer irgendwo welche finden!“
Simon stützte das Kinn auf die wie zum Gebet gefalteten Hände:
„Die Kriminalistik sucht nach Grundmustern, nach dem Psychogramm eines Verbrechens. Es ist erwiesen, dass ein Täter seine Schuldkomplexe ins Unterbewusstsein verdrängt. Deswegen versucht er sich rein zu waschen, indem er seine Tat vertuscht. Dabei hinterlässt er aber unbewusst ein Signum, eine Visitenkarte. Mörder sind auch nur Menschen – und die machen Fehler!“
Der scharfsinnige Syllogismus ließ Simons Brust von Stolz schwellen. Vroni hielt ihm ihr Weinglas unter die Nase:
„Na ist das Glas halb leer oder halb voll?“
Simon schenkte den letzten Rest Retsina nach:
„Jetzt ist es jedenfalls voll! Flüssigkeiten fließen – das ist ihre Natur. Erst durch Gefäße oder Behältnisse wie dieses Glas werden sie veranlasst feste Formen anzunehmen. Die Suche nach dem Mörder hat gleichsam etwas liquides, fließendes, in sich zerlaufendes. Erst nach und nach, indem man den Hergang des Verbrechens rekonstruiert, die Motive entschlüsselt, wird der Bezugsrahmen und die Hintergründe sichtbar, weil sie an Kontur, an Form gewinnen.“
Mit großen Gesten unterstrich Simon die Bedeutung seiner Worte. Die Kunst des Rhetorikers glich der des Dirigenten: die Show machte die Musik. Seine Co-Detektivin in spe schien indes wenig Wert auf pantomimische Showeinlagen zu legen:
„Komm mal runter von deinem Ross! Die Form der Tat, die Kontur des Mörders! Das ist doch Seiche. Das ist genauso als ob ich dir verzähle, dass liquide von liquidieren kommt!“
Simon fühlte sich gründlich missverstanden:
„Aber begreif doch! Jedes noch so mikroskopisch kleine Faserfädchen, jedes Hautpartikel, jeder Samenspritzer kann den Täter überführen. Man muss in den Spuren lesen, die Teile des Puzzles neu kombinieren, um am Ende das sich im Wasser spiegelnde Bild des Mörders zu erkennen.“
Vroni rümpfte ihr spitzes, aristokratisches Näschen:
„Vor hundert Jahren haben Wissenschaftler behauptet, dass sich das Bild des Mörders in die Iris des Toten brennt. Deswegen haben die Mörder die Augäpfel ihres Opfers entnommen oder ihnen Salzsäure ins Gesicht gekippt.“
Mit der Schnelligkeit eines Sherlock Holmes kombinierte er:
„Du denkst, dass unser Marter-Mörder sein Opfer deshalb zu Hackfleisch verarbeitet hat?“
Ein spitzbübischer Blick, ein süßes, umwerfendes Grübchen-Lächeln war die Antwort:
„Bin ich Hellseher. Du bist doch der Meisterdetektiv.“
Bei aller Liebe zu Krimis und Detektivgeschichten, war er von der Aussicht selbst auf Verbrecherjagd zu gehen, nicht sonderlich begeistert. Wie er wusste, war die Mörderjagd mit Kalamitäten, Missgeschicken und anderen Katastrophen verbunden. Simon ahnte, dass es Ärger geben, dass ihn Furien und Erinnyen verfolgen und ihm auf der Achillesferse bleiben würden.
Der Reigen der Lämmer
Caesar in urbe sua deus est! In seiner Stadt ist Caesar Gott.
Wer war schon Cäsar oder gar Gott? Simon war jedenfalls nur ein Tintenkleckser, der das Bedürfnis der Menschen befriedigte, Neuigkeiten als Erste zu erfahren, sich über ihren Nächsten das Maul zu zerreißen, sich insgeheim an blutigen, bleihaltigen Begebenheiten zu ergötzen. Sein Job war es, dieses archaische Bedürfnis in einer dem Medienzeitalter adäquaten Form zu befriedigen und den Wahnsinn der Welt in appetitlichen Sushi-Häppchen zu servieren. Eine ewige Tretmühle, die wenig Zeit und Gelegenheit bot, so etwas wie Handwerkerstolz oder Hochachtung vor sich selbst zu empfinden. Heute war einer dieser seltenen Glücksmomente. Wie ein stolzer Vater seinen Erstgeborenen hielt er den Andruck in Händen und konnte sich an seiner Schlagzeile nicht satt sehen:
„Mord an der Marter! Die Passion Paintinger!“
Die blutroten Lettern sprangen ins Auge, ätzten sich in die Netzhaut, brannten sich ins Gedächtnis. Der Titel würde ihm zwar nicht den Pulitzer-Preis einbringen, aber er war plakativ und provokant genug, um Zweitausend Zeitungen mehr als sonst zu verkaufen. Die emotionsgeladene Headline weckte
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