Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
Irgendwann spürt jeder einmal, dass alles aus dem Ruder läuft. Bei mir geschah das an dem Tag, als Marian starb. Dicht gefolgt von dem, an dem ich zum ersten Mal zum Messer griff.
»Wir haben in beiden Fällen noch nicht den Tatort bestimmen können«, sagte Richard, eine Hand am Steuer, die andere auf der Rückenlehne meines Sitzes. »Nur die Ablagestellen, und die sind ziemlich verunreinigt.«
Ich lotste Richard zu einer Schotterstraße ohne Fahrbahnmarkierung. Wir parkten in kniehohem Unkraut etwa zehn Meilen südlich der Stelle, an der Anns Leiche gefunden wurde. Ich fächelte mir Luft zu, weil es so schwül war, zupfte an meinen langen Ärmeln, die an der Haut klebten. Ich fragte mich, ob Richard wohl den Alkohol von gestern Abend riechen konnte, der sich mit den Schweißperlen auf meiner Haut mischte. Wir wanderten in den Wald, bergauf, bergab. Die Pappelblätter schimmerten in einer imaginären Brise. Gelegentlich huschte ein Tier davon, ergriff ein Vogel die Flucht. Richard folgte mir mit sicherem Schritt, zupfte Blätter ab und zerriss sie beim Gehen. Als wir die fragliche Stelle erreichten, war unsere Kleidung durchweicht, mir troff der Schweiß vom Gesicht. Es war ein altes Schulhaus mit nur einem Raum, leicht schief und von Ranken überwuchert.
Drinnen hing noch eine halbe Tafel an der Wand. Sie war mit detailfreudigen Zeichnungen von Penissen bedeckt, die in Vaginen eindrangen – allesamt ohne dazugehörige Körper. Auf dem Boden lagen welkes Laub und Schnapsflaschen, dazu rostige Bierdosen aus der Zeit, in der man den Verschluss noch abreißen musste. Ein paar winzige Pulte waren übrig geblieben. Auf einem lag eine Tischdecke, darauf stand eine Vase mit welken Rosen. Ein armseliger Ort für ein romantisches Essen zu zweit. Hoffentlich war es schön gewesen.
»Nette Kunstwerke«, sagte Richard und deutete auf die Zeichnungen. Sein leichtes blaues Oxfordhemd klebte ihm am Körper. Ich erkannte die Umrisse einer durchtrainierten Brust.
»Hier treiben sich vor allem Kids herum. Aber es ist nah am Bach, daher wollte ich es Ihnen zeigen.«
»Hm.« Er schaute mich an. »Was tun Sie in Chicago, wenn Sie nicht arbeiten?« Er beugte sich über das Pult, pflückte eine welke Rose aus der Vase und zerkrümelte die Blätter.
»Was ich tue?«
»Haben Sie einen Freund? Ich wette, ja.«
»Nein. Ich habe schon lange keinen Freund mehr gehabt.«
Er begann, die Blütenblätter abzuzupfen. Ich konnte nicht erkennen, ob er wirklich an der Antwort interessiert war. Er blickte hoch und grinste.
»Sie sind ein harter Brocken, Camille, bei Ihnen komme ich richtig ans Arbeiten. Das gefällt mir, ist mal was anderes. Die meisten Frauen können den Mund nicht halten. Ist nicht böse gemeint.«
»Ich will es Ihnen gar nicht schwermachen. Die Frage überraschte mich nur«, sagte ich und fasste allmählich wieder Fuß. Smalltalk und Geplänkel, das liegt mir. »Haben Sie denn eine Freundin? Ich wette, es sind sogar zwei. Eine Blonde und eine Brünette, passend zu den Krawatten.«
»Zweimal falsch. Keine Freundin, und die letzte war ein Rotschopf. Passte leider nicht zu meiner Garderobe. Schade, war ein nettes Mädchen.«
Normalerweise mochte ich Männer wie Richard nicht, Männer, die auf der Sonnenseite des Lebens geboren und aufgewachsen waren: gutaussehend, charmant, smart, vermutlich auch wohlhabend. Solche Männer hatten mich nie gereizt; sie besaßen keine Ecken und Kanten und waren obendrein meist feige. Sie flohen, sobald eine Situation peinlich für sie werden konnte. Doch mit Richard langweilte ich mich nicht. Vielleicht, weil sein Grinsen ein bisschen schief saß. Oder weil er sich von Berufs wegen mit hässlichen Dingen abgab.
»Sind Sie als Kind nie hergekommen, Camille?« Seine Stimme klang ruhig, fast schüchtern. Als er den Kopf drehte, schimmerte sein Haar golden in der Nachmittagssonne.
»Oh doch. Der ideale Ort für unerlaubte Aktivitäten.«
Richard reichte mir die letzte Rose und strich mit dem Finger über meine schweißnasse Wange.
»Das kann ich mir vorstellen. Zum ersten Mal wünsche ich mir, ich wäre in Wind Gap aufgewachsen.«
»Wir wären bestimmt gut miteinander ausgekommen«, sagte ich und meinte es ernst. Plötzlich war ich traurig, dass ich als Kind keinen Jungen wie Richard gekannt hatte, der mir wenigstens eine kleine Herausforderung geboten hätte.
»Du weißt, dass du schön bist, oder? Ich würde es dir sagen, aber du würdest es sicher einfach abtun. Also …«
Er bog
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