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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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aber unerbittlich abtupft, immer nur einen briefmarkengroßen Fleck auf einmal. Goto Dengos Verstand spielt ihm immer noch Streiche, und als er an seinem nackten Rumpf entlang blickt, kommt er einen Moment lang völlig durcheinander und meint, er betrachte die ans Kreuz genagelte Jammergestalt Jesu. Seine Rippen stehen hervor und seine Haut ist eine wirre Landkarte aus Narben und Wunden. Er kann unmöglich noch zu irgendetwas gut sein; warum schicken sie ihn nicht nach Japan zurück? Warum haben sie ihn nicht einfach umgebracht? »Sprechen Sie Englisch?«, fragt er und ihre riesigen braunen Augen zucken ganz leicht. Sie ist die schönste Frau, die er je gesehen hat. Für sie muss er etwas Widerwärtiges sein, eine Probe unter einem Glasplättchen in einem Pathologie-Labor. Wenn sie das Zimmer verlässt, wird sie sich wahrscheinlich selbst gründlich waschen und dann alles tun, um die Erinnerung an Goto Dengos Körper aus ihrem reinen, jungfräulichen Verstand zu verbannen.
    Er driftet in ein Fieber ab und sieht sich selbst vom Beobachtungspunkt eines Moskitos aus, der versucht, durch das Netz hereinzufinden: ein abgezehrter, geschundener Leib, der wie ein zerklatschtes Insekt ausgespreizt auf einem Holzgestell liegt. Dass er Japaner ist, kann man nur an dem um seinen Kopf gebundenen weißen Stoffstreifen erkennen, aber statt einer aufgemalten Sonne trägt er eine Aufschrift: I.N.R.I.
    Ein Mann in einem langen, schwarzen Gewand sitzt bei ihm, in der Hand eine Kette aus roten Korallenperlen, an der ein winziges Kruzifix baumelt. Er hat den großen Kopf und die wuchtige Stirn der seltsamen Menschen, die auf den Reisterrassen arbeiten, aber sein zurücktretender Haaransatz und das nach hinten gebürstete, silbrigbraune Haar sind ebenso wie sein durchdringender Blick sehr europäisch. »Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum«, sagt er. »Das ist Latein. Jesus von Nazareth, König der Juden.«
    »Juden? Ich dachte, Jesus war Christ«, sagt Goto Dengo.
    Der Mann im schwarzen Gewand starrt ihn bloß an. Goto Dengo versucht es noch einmal: »Ich wusste nicht, dass Juden Latein sprechen.«
    Eines Tages wird ein Rollstuhl ins Zimmer geschoben; er starrt ihn mit dumpfer Neugier an. Er hat von diesen Gerätschaften gehört – man benutzt sie hinter hohen Mauern, um schändlich unvollkommene Menschen von einem Zimmer ins andere zu transportieren. Plötzlich haben diese winzigen Frauen ihn hochgehoben und hineingesetzt! Eine sagt etwas von frischer Luft, und ehe er sich’s versieht, wird er zur Tür hinaus und auf einen Flur geschoben! Sie haben ihn angeschnallt, damit er nicht herunterfällt, und er windet sich unbehaglich im Stuhl und versucht, sein Gesicht zu verbergen. Die Frau schiebt ihn auf eine riesige Veranda mit Blick auf die Berge. Von den Blättern steigt Dunst auf und Vögel kreischen. An der Wand hinter ihm hängt ein großes Bild von I.N.R.I., nackt an einen Pfahl gekettet und aus Hunderten von parallelen Peitschenstriemen blutend. Vor ihm steht ein Centurio mit einer Geißel. Seine Augen wirken seltsam japanisch.
    Auf der Veranda sitzen noch drei Japaner. Einer von ihnen redet unverständlich mit sich selbst und pult unentwegt an einer Wunde an seinem Arm, die ununterbrochen in ein Handtuch auf seinem Schoß blutet. Einem anderen hat es Gesicht und Arme verbrannt und er starrt durch ein einzelnes Loch in einer ausdruckslosen Maske aus Narbengewebe auf die Welt hinaus. Den dritten hat man mit vielen weißen Stoffstreifen in seinem Stuhl festgebunden, weil er sich wie ein gestrandeter Fisch unentwegt herumwirft und dabei unverständliche, stöhnende Laute von sich gibt.
    Goto Dengo beäugt das Geländer der Veranda und überlegt, ob er die Kraft aufbringt, selbst hinüberzufahren und sich über die Kante zu stürzen. Warum hat man ihn nicht ehrenhaft sterben lassen?
    Die Mannschaft des Unterseeboots hat ihn und die anderen Evakuierten mit einer nicht zu deutenden Mischung aus Verehrung und Abscheu behandelt.
    Wann hat er sich seinem Volk entfremdet? Es ist lange vor seiner Evakuierung aus Neuguinea geschehen. Der Lieutenant, der ihn vor den Kopfjägern rettete, hat ihn wie einen Verbrecher behandelt und zum Tode verurteilt. Aber er war schon vorher anders. Warum haben ihn die Haie nicht gefressen? Riecht sein Fleisch anders? Er hätte mit seinen Kameraden in der Bismarck-See sterben müssen. Er hat überlebt, teils weil er Glück gehabt hat, teils weil er schwimmen kann.
    Warum kann er schwimmen? Teils weil sein Körper

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