Cujo
besuchen. Die Verwandten wohnten in einer vielleicht zwei oder drei Autostunden entfernten Stadt. Vielleicht in Kennebunk. Oder Hollis. Oder Augusta. Es war ein Familientreffen.
Sie fing an zu träumen. Auf dem Rasen, so grün und schön wie sonst nur in der Fernsehwerbung, sah sie fünfzig oder mehr Leute versammelt. Über einem aus Steinen errichteten offenen Grill flimmerte ein Hitzeschleier. An einem langen Tisch saßen mindestens vier Dutzend Leute und reichten einander Platten mit Maiskolben und gebackenen Bohnen. Es gab auch Platten mit gegrillten Frankfurter Würstchen. Auf dem Tisch lag eine einfache karierte Tischdecke. Die beherrschende Person war eine gutaussehende alte Dame mit weißen Haaren, die sie im Nacken zu einem Knoten gebunden hatte. Donna erkannte ohne jede Überraschung, daß diese Frau ihre Mutter war.
Die Cambers waren da, aber.es waren eigentlich gar nicht die Cambers. Joe Camber trug einen sauberen Arbeitsanzug und sah wie Vic aus. Mrs. Camber trug Donnas grünes Seidenkleid. Ihr Junge sah aus, wie Tad aussehen würde, wenn er erst in der fünften Klasse war …
»Mommy?«
Das Bild schwankte und fiel auseinander. Sie versuchte, es festzuhalten, denn es war so friedlich und schön: der Archetypus eines Familienlebens, wie sie es nie gehabt hatte, wie auch Vic und sie mit ihrem einen Wunschkind und ihrem vorprogrammierten Leben es nie haben würden. Mit einer plötzlich aufsteigenden Traurigkeit fragte sie sich, warum sie die Dinge nie in diesem Licht betrachtet hatte.
Wieder schwankte das Bild und wurde dunkler. Die Stimme von außen durchdrang ihre Vision, wie eine Nadel die Eierschale durchsticht. Aber das machte nichts aus. Die Cambers
würden gegen zehn Uhr vorfahren, glücklich und satt. Der Joe Camber mit Vics Gesicht würde die Dinge in die Hand nehmen, und alles war dann wieder gut. Es gab Dinge, die Gott nicht zuließ. Es würde -
»Mommy?«
Sie erwachte aus ihrem Traum und richtete sich auf. Sie war - überrascht, daß sie am Steuer ihres Wagens saß und nicht zu Hause im Bett lag … aber nur eine Sekunde lang. Schon löste sich das schöne surrealistische Bild der um den Tisch versammelten Verwandten auf, und in fünfzehn Minuten würde sie nicht einmal mehr wissen, daß sie geträumt hatte.
»Hmmm? Was ist?«
Plötzlich, es traf sie wie ein Schock, fing das Telefon im Haus der Cambers an zu klingeln. Der Hund stand auf. Schatten bewegten sich und flössen dann zu einer großen, häßlichen Gestalt zusammen.
»Mommy, ich muß auf die Toilette.«
Cujo hatte das Telefon natürlich gehört und fing an zu brüllen. Er bellte nicht, er brüllte. Plötzlich rannte er auf das Haus zu. Er sprang so hart gegen die Hintertür, daß sie in ihrem Rahmen zitterte.
Nein, dachte sie, o nein, aufhören, bitte aufhören -
»Mommy, ich muß …«
Der Hund knurrte und biß in das, Holz der Tür. Sie hörte das splitternde Geräusch, das seine Zähne verursachten.
»… Pipi machen.«
Das Telefon klingelte sechsmal. Achtmal. Zehnmal. Dann verstummte es.
Jetzt erst merkte sie, daß sie die ganze’Zeit die Luft angehalten hatte. Heiß stieß sie sie jetzt durch die Zähne aus.
Cujo stand an der Tür, die Hinterpfoten im Sand, die Vorderpfoten auf der obersten Stufe. Er knurrte wütend. Ein abscheuliches, alptraumhaftes Geräusch. Endlich drehte er sich um und schaute wieder zum Wagen hin. Donna sah den getrockneten Schaum an seinem Maul und auf seiner Brust. Dann trottete er wieder in den Schatten zurück und war nicht mehr deutlich zu sehen. Man konnte nicht erkennen, wohin er lief. Vielleicht in die Werkstatt. Oder vielleicht neben der Scheune entlang.
Tad zerrte verzweifelt am Ärmel ihrer Bluse. »Mommy, ich muß ganz doll!« Sie sah ihn hilflos an.
Brett Camber legte langsam den Hörer auf. »Es geht niemand dran. Er ist wohl nicht zu Hause.«
Charity nickte. Sie war nicht sonderlich überrascht. Sie war froh, daß Jim vorgeschlagen hatte, von seinem Büro aus zu telefonieren, das im Erdgeschoß lag, weit weg vom »Famüienzimmer«. Das Familienzimmer war schallisoliert. Dort standen Regale mit Brettspielen, ein Panasonic-Fernsehgerät mit großem Bildschirm und eine Zusatzvorrichtung für Video-Spiele. In einer Ecke stand eine herrliche alte Wurlitzer-Musicbox, die tatsächlich funktionierte.
»Er ist wohl unten bei Gary«, fügte Brett hinzu. Er war untröstlich.
»Ja, ich glaube auch, daß er mit Gary zusammen ist«, pflichtete sie ihm bei. Und das mußte nicht
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