Cujo
die Autobahn laufen würde, hatte sie ein wenig beruhigt, aber sie war nicht viel schlauer ugSngeworden. Eine Woche später hatte sie Brett zum Arzt gebracht. Es war kurz nach seinem sechsten Geburtstag. Gresham hatte ihn gründlich untersucht und festgestellt, daß er in jeder Hinsicht normal sei. Und tatsächlich schien Gresham recht behalten zu haben. Jedenfalls lag der letzte seiner nächt-liehen »Spaziergänge«, wie Charity sie nannte, schon zwei Jahre zurück.
Bis jetzt.
Brett öffnete die Schränke, einen nach dem anderen, und schloß jeden sorgfältig, bevor .er sich dem nächsten zuwandte. Sie sah Hollys Bratenschüsseln, ihre ordentlich aufgeschichteten Geschirrtücher, einen noch nicht ganz kompletten Satz sehr teurer Gläser. Er hatte die Augen weit geöffnet, aber sein Blick war leer. Sie hatte das bestimmte Gefühl, daß er in diesem Augenblick auch den Inhalt anderer Schränke an anderen Orten sah.
Sie empfand das alte hilflose Entsetzen, das sie fast schon vergessen hatte, wie Eltern den Ärger und die Aufregungen der frühen Kindheit ihrer Sprößlinge vergessen: das Zahnen, das erschreckend hohe Fieber nach der Impfung, die Diphtherie, die Mittelohrentzündung, die Hand oder das Bein, aus denen plötzlich ohne jeden Grund Blut floß. Was denkt er? überlegte sie, Wo ist er? Und warum passiert es jetzt? Nach all den Jahren? War es die ungewohnte Umgebung? Sie hatte an ihm keine Aufregung feststellen können … wenigstens bis jetzt nicht.
Er öffnete den letzten Schrank und nahm eine rosa Soßenschale heraus. Er stellte sie auf den Tisch. Er griff in die Luft und machte eine Bewegung, als ob er etwas in die Soßenschale schüttete.. Ihre Arme bekamen eine Gänsehaut, als sie erkannte, wo er war und was seine Vorstellung zu bedeuten hatte. Es war eine Routine, die er zu Hause Tag für Tag durchexerzierte. Er fütterte Cujo.
Instinktiv ging sie einen Schritt auf ihn zu und blieb dann stehen. Sie glaubte diese Altweibergeschichten nicht, in denen geschildert wurde, was alles passieren konnte, wenn man einen Schlafwandler weckte - daß die Seele ohne Wiederkehr aus dem Kopf fahren würde, daß der Betreffende den Verstand verlieren oder plötzlich sterben könnte - und darüber hätte Dr. Gresham sie nicht erst belehren müssen. Sie hatte sich in der Bibliothek von Portland eigens ein Buch über das Thema ausgeliehen … aber auch das hatte sie eigentlich.nicht gebraucht. Ihr gesunder Verstand hatte ihr gesagt, was passierte, wenn man einen Schlafwandler weckte: Er wachte auf. Es mochte Tränen geben, vielleicht eine leichte Hysterie, aber diese Reaktion war ganz einfach auf Desorientierung zurückzuführen.
Dennoch hatte sie Brett während seiner nächtlichen Spaziergänge niemals geweckt, und sie wagte es auch jetzt nicht. Gesunder Verstand war eine Sache. Ihre unsachlichen Befürchtungen eine andere. Sie hatte plötzlich entsetzliche Angst und wußte nicht, warum. Was konnte daran so schrecklich sein, daß Brett träumte, er füttere gerade seinen Hund? Das war doch völlig natürlich, zumal er sich um Cujo solche Sorgen gemacht hatte.
Jetzt beugte er sich vor und streckte die Hand mit der Soßenschale aus, und seine weiße Pyjamakordel hing im rechten Winkel zu der rotschwarzen Linoleumfläche. Sein Gesicht vollführte in Zeitlupe eine Pantomime des Kummers. Er fing an zu sprechen und murmelte die Worte guttural und hastig und schwer verständlich, wie es Schlafwandlern eigen ist. Und die Worte selbst drückten keine Emotionen aus. Diese lagen in ihm, lagen unter der Larve des Traumes, der lebhaft genug gewesen sein mußte, um ihn nach vielen Jahren wieder schlafwandeln zu lassen. In seinen rasch und mit einem schläfrigen Seufzer ausgestoßenen Worten lag nichts Melodramatisches, aber Charity fuhr sich mit der Hand an die Kehle. Ihre Haut fühlte sich kalt an. Sehr kalt.
»Cujo hat keinen Hunger mehr«, sagte Brett und richtete sich wieder auf. Er preßte die Soßenschale gegen die Brust. »Nein, nicht mehr, nicht mehr.«
Er blieb eine Weile bewegungslos am Tisch stehen, und Charity tat dasselbe an der Küchentür. Eine einzelne Träne lief ihm über das Gesicht. Er stellte die Schale auf den Tisch und ging zur Tür. Er hatte die Augen geöffnet, aber sie gHtten gleichgültig und blicklos über seine Mutter hin. Er blieb stehen und sah sich noch einmal um.
»Such im Gras«, sagte er zu jemandem, der nicht da war. »Such im hohen Gras.«
Dann ging er wieder auf sie zu. Sie trat zur
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