Cupido #1
provokant inszeniert, wo sie irgendwann gefunden werden mussten. Wieso verfuhr er mit manchen so und mit manchen anders? Mit Fundorte waren sorgfältig konstruiert und vorsätzlich ausgesucht worden. Wieso? Was für eine Botschaft steckte dahinter? Zwei der früheren Opfer, Nicolette Torrence und Hannah Cordova, hatte man nach Schätzung des Gerichtsmediziners nur wenige Tage nach ihrem Tod gefunden. Und sie waren beide in der Woche vor ihrer Entdeckung als vermisst gemeldet worden. Inzwischen gönnte Cupido sich offensichtlich mehr Zeit mit seinen Opfern, er schien zu experimentieren. Denn es vergingen Monate zwischen dem Verschwinden einer Frau und der Entdeckung ihrer Leiche.
In den Medien wurde ständig und gnadenlos über den Serienkiller berichtet. An jedem Fundort veranstaltete die Presse einen Riesenzirkus mit ihren Ü–Wagen, Livereportagen und Blitzlichtgewittern. Nachrichtensender aus dem ganzen Land, ja der ganzen Welt hatte ihr Lager in Miami aufgeschlagen, um von den «zahllosen bestialischen Morden» zu berichten, die «die Polizei restlos überforderten». Dreiste, ehrgeizige Reporter prügelten sich vor den Leichensäcken darum, die Ersten zu sein. Bei der landesweiten Übertragung konnten sie dann nur mühsam ihre Begeisterung darüber, dass ein weiteres Cupido–Opfer gefunden worden war, überspielen. Und jetzt zurück ins Studio.
Dominick fuhr sich mit der Hand durch das dichte schwarze Haar und nahm noch einen Schluck kalten Kaffee. In den letzten zwei Tagen hatte er kaum vier Stunden geschlafen. Er zupfte an seinem kurzen grau melierten Ziegenbärtchen, das er sich seit ein paar Monaten stehen ließ. Neuerdings war der Bart mehr grau als meliert. Auch wenn er noch ganz gut aussah – zumindest angezo–gen –, im Innern begann er die Last jedes einzelnen seiner neununddreißig Jahre zu spüren.
Es war der Beruf – und solche Fälle. Sie saugten jegliche Lebenskraft aus ihm heraus, wie sehr er auch versuchte, alles auf Distanz zu halten. In jedem der jungen, hübschen, frischen Gesichter sah er eine Tochter, eine Freundin, eine Schwester. Wenn er in die toten Augen blickte, sah er seine eigene Nichte, die gestern noch auf der Reifenschaukel im Garten in Long Island geschaukelt hatte; inzwischen wurde sie zur Frau und ging nach Cornell studieren. Er arbeitete seit siebzehn Jahren bei der Mordkommission, die ersten vier beim NYPD in der Bronx und die letzten dreizehn Jahre als Special Agent beim Violent Crimes Squad des FD LE. Jedes Jahr schwor er sich, dies würde das letzte sein, nahm sich vor, eine Versetzung ins Betrugsdezernat zu beantragen, wo es immer so ruhig war, dass alle um fünf Uhr Feierabend machten. Doch die Jahre kamen und gingen, und da war er nun und quälte sich immer noch mit Leichen und mit Durchsuchungsbefehlen um drei Uhr früh herum. Aus irgendeinem seltsamen Grund hatte er das Gefühl, er könnte nicht anders. Er würde keine Ruhe finden, bis der letzte Mörder gefasst war, das letzte Opfer gesühnt. Und das würde wohl leider nie passieren.
Dominick wusste, dass jeder Verbrecher Fehler machte. Jeder einzelne. Und selbst Serienkiller hinterließen eine Visitenkarte. Er hatte in seiner Karriere vier Serienmorde bearbeitet, darunter Danny Rolling aus Gainesville und den Tamiami–Würger in Miami. Wenn man sich die Tatorte berüchtigter Serienmörder, die gefasst worden waren, noch einmal ansah, waren ihre Fehler, aus sozusagen historischer Sicht, ganz offensichtlich. Man musste nur wissen, wo man zu suchen hatte. Sams Sohn, der Würger von Boston, John Wayne Gacey, Ted Bundy, Jeffrey Dahmer.
Man musste nur wissen, wo man zu suchen hatte.
Er betrachtete die «Mauer» und versuchte, das fehlende Bindeglied zu finden, das keiner sah. An der gegenüberliegenden Wand hingen Luftaufnahmen von South Beach und Miami Dade County, gespickt mit roten und blauen Reißzwecken. Die roten Punkte konzentrierten sich in SoBe, wie das Art–déco–Viertel South Beach kurz genannt wurde. Sie kennzeichneten die Orte, an denen die Opfer verschwunden waren. Die blauen dagegen verteilten sich über den gesamten Umkreis von Miami.
Es war neun Uhr abends. Im Schein der Neonröhren griff Domi–nick nach seiner Brille und las noch einmal die Befragung von Shelly Hodges, einer der letzten Personen, die ihre Freundin Marilyn Siban lebend gesehen hatten. «Es war zu voll, um bei der Bedienung zu bestellen. Die brauchten einfach ewig. Marilyn sagte, sie habe an der Bar ein paar Leute gesehen,
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