DÄMONENHASS
gab nichts, was seine glasigen Augen und sein betäubter Verstand aufzunehmen bereit waren. Doch, da war etwas, der hohe Palisadenzaun, der einen Augenblick lang seine Aufmerksamkeit fesselte. Aber auch er hatte sich verändert, wies etliche Lücken auf und neigte sich nach außen.
Nestor stand auf und stolperte aus dem Schuttberg. Was auch immer hier geschehen war, irgendwie schien ihm die halbe Kleidung vom Leib gerissen worden zu sein! Automatisch richtete er sich mit ungeschickten Fingern, wie ein Mann, der sich den Staub nach einem heftigen Sturz abklopft, seine Hosen und sein Lederhemd.
Langsam, mit schwankenden Schritten, bewegte er sich auf die Dorfmitte zu, fort von den Trümmern des Hauses seiner Mutter.
Das Haus seiner Mutter?
Woher kam dieser Gedanke? Er drehte sich um und blickte auf das frisch entstandene Chaos – auf die schwarzen, gesplitterten Balken und die rauchenden Schutthaufen unter der finsteren Staubwolke, die sich immer noch nicht gelegt hatte – und schüttelte langsam den Kopf. Nein, das Haus seiner Mutter war ein warmer und freundlicher Ort gewesen.
Auf seinem Weg schrien unaufhörlich Stimmen aus zerstörten Häusern. Da und dort stolperten Menschen wie Schatten umher und riefen um Hilfe oder nach vermissten Familienangehörigen. Flammen stiegen auf, wo Herdfeuer die verwüsteten Häuser zu Totenbränden werden ließen. Es gab nichts, was Nestor dagegen tun konnte, denn viel zu viele Menschen brauchten Hilfe. Außerdem benötigte er ebenfalls Hilfe.
Allmählich fielen ihm wieder Namen ein, und bruchstückhaft erinnerte er sich an ein Gespräch:
Jason, Misha, Nathan, Lardis, Andrei ... Nestor?
Jason: »Was wirst du tun?«
Nestor, knurrend: »Es ist Mishas Entscheidung. Ich werde gehen, ob mit oder ohne Misha. Aber sei gewiss, dass ich eines Tages zurückkommen werde.«
Misha, furchtsam: »Weil ... weil er jemanden brauchte. Und ich war die Einzige, die Mitleid hatte. Aber Nestor ... warum tust du das?«
Nestor, entschlossen: »Wenn dein Vater und deine Brüder erfahren, was geschehen ist, werden sie mich umbringen.«
Misha, erstaunt: »Nein, das dürfen sie nicht. Du bist doch der Lord Nestor!«
Nestor: »Natürlich! Und ich fürchte keinen Menschen, denn ich bin ein Wamphyri!«
Nathan: (Aber da war nichts, keinerlei Worte, nur ein endloser Strom von Zahlen, der durch Nestors Verstand schoss und bedeutungslose Muster bildete. Eines davon war ein seltsames Zeichen in Form einer auf der Seite liegenden Acht, wie eine Apfelschale oder ein gekräuselter Holzspan. Über dem Rauschen und Wirbeln der Zahlen erhob sich das ferne, trostlose Geheul der Wölfe. Und über allem lag ein gequältes Gesicht, das ihn in seinen Bann schlug, vollkommen traurig, einsam und ... vorwurfsvoll?)
Lardis: »Dies ist der Ort, an dem die Mächte der Höllenländer und der Wamphyri aufeinandergetroffen sind und sich gegenseitig auslöschten.«
Andrei: »Aber jetzt sind sie fort und nicht mehr als Staub und Gespenster, und wir sollten sie ruhen lassen.«
Nestor zornig: »Was denn – Gespenster? Die Wamphyri? Niemals! Ich bin der Lord Nestor!«
Die Stimmen kamen und gingen: Stimmen aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart, aus der Fantasie. Stimmen aus der Wirklichkeit des Kindes, der Wirklichkeit des Erwachsenen und auch aus der Unwirklichkeit. Sie alle suchten ihn zu erreichen, und doch drang keine zu ihm durch. Sie wirbelten in seinem verletzten Kopf durcheinander. Erinnerungen verschmolzen mit Hirngespinsten, bloßen Einbildungen, als sein früheres Leben entschwand und zu einem einzigen, sich ständig wiederholenden Satz wurde: Ich bin Nestor von den Wamphyri! Bis es sicher schien, dass die Gegenwart, die sich so sonderbar und zusammenhanglos wie ein Traum darstellte, auch nur ein Traum sein konnte, dem allein der unbewusste Wille seines Schöpfers Substanz verlieh. Erleichtert sagte Nestor sich, dass er nur träumte.
Zwischen den rauchenden, von Flammen durchschossenen Ruinen nahe der Ostmauer flatterte nicht allzu weit entfernt ein einzelner Flieger auf einen Schutthaufen zu und reckte
seinen langen Hals gen Himmel. Nestor blieb kurz stehen, um ihn zu beobachten, und bekam flüchtig mit, dass auf einem Sattel am Halsansatz des Wesens ein Reiter saß. Einen Augenblick später schnellte sich der Flieger auf kraftvollen Sprunggliedern wieder in die Höhe, stieg über die Ruinen und gewann in einem weiten Kreisflug an Höhe. Nestor spürte seinen Schatten, als er über ihm dahinzog, und
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