DÄMONENHASS
dass es dir gut geht?«
»Was ist mit Nestor?« Nathan blickte ihn unverwandt aus seinen seltsamen, unergründlich blauen Augen an.
Lardis blieb nichts anderes übrig, als ihm die Wahrheit zu sagen. Er hatte zu viel zu tun und noch nicht einmal die Zeit gefunden, seinem eigenen Leid die Zügel schießen zu lassen. Er konnte sich nicht auch noch mit den Tränen der anderen befassen. »Geraubt!«, sagte er. »Wir haben es gesehen. Ein Flieger hat ihn gepackt und davongetragen. Der Kerl da am Kreuz war der Reiter. Kirk hat ihn aus dem Sattel geholt. Andrei und ich haben seinem Biest einen Bolzen in den Bauch gejagt. Aber wir konnten es nicht aufhalten. Es hat abgehoben und ist mit Nestor weggeflogen. Tut mir leid.«
Nathan machte Anstalten, sich stolpernd abzuwenden. Ebenso wie Lardis sparte er sich seine Gram für später auf. Doch eines musste er noch sagen: »Meine Mutter war in unserem Haus«, sagte er. »Sie ist verschüttet!«
Abermals hielt Lardis ihn zurück. »Nathan, warte. Wir haben alle eingestürzten Häuser durchwühlt.« Er rief eine Frau mit einer primitiven Karte des Dorfes zu sich, die mit Holzkohle auf ein Stück Stoff gezeichnet worden war, und fragte: »Was ist mit Nana Kiklu?«
Die Frau brauchte gar nicht auf die Karte und ihre verschmierten Zeichen zu sehen. Sie hatte Nana gut gekannt und schwieg. Unter ihrem schwarzen Umhangtuch schüttelte sie nur den Kopf.
»Rede!«, schrie Nathan sie an, und Lardis trat überrascht einen Schritt zurück. »Was soll das?«, brüllte Nathan. »Ein Kopfschütteln – was soll das bedeuten? Habt ihr meine Mutter gefunden? Ist sie tot? Sprich!«
Die Frau, die selbst auch Verluste erlitten hatte, fand schließlich die Sprache wieder und schluchzte: »Deine Mutter ist nicht hier, Nathan. Man hat sie nicht gefunden. Weder deine Mutter noch das Zanesti-Mädchen, Misha, die bei euch war. Ihr Vater kam hierher, um zu sehen, ob man sie gefunden hat. Er war vollkommen außer sich und raufte sich die Haare! Heute Nacht hat er nicht nur Misha, sondern auch noch einen Sohn verloren!«
Misha verloren! Endlich wurde Nathan die Wahrheit zur Gänze bewusst. Er setzte sich in den Staub und stützte den Kopf in die Hände. Er spürte keine Tränen, nur eine gewaltige Müdigkeit. Denn er erkannte jetzt, dass er erwachen – wahrhaftig erwachen – und ein Teil dieser Welt werden musste, die er von sich geschoben hatte. Vorher ... war sie nicht wichtig gewesen. Eigentlich war nichts sonderlich wichtig gewesen. Diese Welt war nicht die seine gewesen, er hatte sie nicht einmal für wirklich erachtet, weil er dachte, dass sie nichts für ihn bereithielt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren ihm alle Menschen wie fremde Wesen vorgekommen. Aber Mishas Verlust war Wirklichkeit, und er konnte ihn nicht leugnen. Der eine warme Fleck in seinem Herzen war nun leer und kalt.
Nein, da gab es noch einen anderen warmen Platz, den bis jetzt seine Mutter eingenommen hatte. War sie auch verloren? Dann musste sein Herz vollständig zu Eis werden. Er wandte sich an Lardis. »Hat jemand gesehen, wie meine Mutter geraubt wurde?«
Lardis seufzte. »Nathan, ich habe eine Menge zu tun. Viel zu viel zu tun und zu wenig Zeit dafür. Aber wenn alles getan ist, sei gewiss, dass ich nachfragen werde. Du bist nicht der Einzige, der Fragen hat. Bis Sonnauf wissen wir Bescheid, wer geraubt wurde, wer ermordet und wer geschändet oder verwandelt wurde. Und bis dahin werden wir auch ... alles verarbeitet haben. Aber im Augenblick kann nichts getan werden. Wenigstens nicht von dir.«
»Und was soll ich tun?«
Lardis zuckte die Achseln und seufzte. »Such dir einen warmen Platz. Schlafe ein bisschen.«
»Und du? Brauchst du keinen Schlaf?« Erstaunlicherweise gab Nathan sich beinahe trotzig. Lardis hätte so etwas vielleicht von seinem Bruder Nestor erwartet, aber von Nathan?
»Ich schlafe später«, antwortete er rau und wandte sich ab. »Doch zuerst ... habe ich noch zu tun. Also mach dich davon, ich bin beschäftigt!«
Nathan schüttelte den kurz geschorenen, blonden Schopf. »Wenn du stark sein kannst, kann ich es auch. Wie könnte ich überhaupt schlafen? Lardis, ich ... ich habe niemanden mehr!«
Lardis hörte die Leere in seiner Stimme wie einen Widerhall auf die Leere, die in ihm selbst herrschte, und dachte: Ich habe auch niemanden mehr, nicht mehr. Bis auf dich vielleicht.
Aber laut sagte er: »Dann sei woanders stark, zumindest für den Augenblick. Dies ist ein blutiger Ort, Nathan, und wir
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