Dancing Jax - 01 - Auftakt
Das blasse Gesicht von Sandra Dixon, die ihn voller Wut anstarrte, verfolgte ihn noch immer – und es war eine Erinnerung, die er gerne fortspülen wollte, oder zumindest kräftig verdünnen. Leider war der Kühlschrank zu Hause leer, also hoffte er, auf dem Weg zum Landguard auf ein paar seiner Kumpels zu stoßen. Im Augenblick ging keiner von ihnen ans Handy, trotzdem war er sich sicher, dass sie dort sein würden.
Von der Nordsee schlug ihm ein kalter Wind entgegen und der dunkel werdende Himmel sah bedrohlich aus. Conor zog sich die Kapuze über den Kopf und lief weiter. Als er in die View Point Road kam, bemerkte er die vielen anderen jungen Leute, die ebenfalls in Richtung Halbinsel marschierten – wie eine große Herde durstiger Tiere auf der Suche nach einem Wasserloch. Die meisten waren zu Fuß unterwegs, doch es fuhren auch ein paar Autos und Gruppen von Fahrradfahrern vorbei. Zwei Teenager schlängelten sich sogar auf Rollerblades durch den Menschenstrom. Die Skateboarder, die sonst immer beim Kino rumhingen, waren ebenfalls mit von der Partie.
Es war eine lange Straße, die, abgesehen von einem Knick am Anfang und am Ende, schnurgerade verlief. Rechts daneben lag, hinter seinem hohen Grenzzaun, der Frachthafen. Links war eine Wohnwagenanlage, hinter der sich Sanddünen und das Meer erstreckten.
Als Conor sich umsah, fiel ihm auf, dass die meisten seiner emsigen Mitpilger etwas älter waren als er, andererseits gab es auch einige wenige, die sicher nicht älter als zehn waren und ihre großen Brüder oder Schwestern aufgeregt hinter sich herzogen. Hier und da stachen wie Wachposten Eltern aus der Menge heraus und strahlten Misstrauen und Ablehnung aus – Conor hoffte, sie würden den Anstand besitzen, sich auf dem Landguard im Hintergrund zu halten. Da waren die Alten fehl am Platz.
Er spürte die erwartungsvolle Spannung und Aufregung, die in der Luft lagen. Es herrschte eine Stimmung wie auf einem Volksfest. Einige hatten Taschenlampen dabei, mit denen sie in der Luft herumfuchtelten und Muster aus Licht in die Dunkelheit malten. Hinter dem Campingpark erleuchteten die Lichtkegel die finstere Einsamkeit, die zwischen den Dünen und der Straße lag – und schreckten die Kaninchen auf. Diese Dünen formten eine Art hohes buckliges Rückgrat, das bis zur Feste führte, und Conor konnte die Silhouetten von Menschen erkennen, die sich auf dem schmalen Weg oben auf den sandigen Hügeln gegen den Himmel abzeichneten. Sie hielten von der anderen Seite auf das Landguard zu, um es zu umrunden und sich mit allen anderen vor dem Pförtnerhaus zu versammeln.
Jeder hoffte, dass in dieser Nacht etwas Besonderes passieren würde, eine neue Erfahrung – ein neuer Kick. Das Gefühl, nicht zu wissen, was geschehen würde, war beinahe mit Händen greifbar. Inzwischen war es schon fast Viertel vor neun, als hinter der letzten Straßenbiegung in der Ferne der massige, niedrige Bau der fünfeckigen Festung auftauchte. Conor erwartete beinahe, Scheinwerfer am Himmel zu erblicken und grelle Discolichter, die über dem Ziegelgebäude hin und her huschten, aber da war absolut gar nichts. Nur ein Strom von Menschen, die stetig auf das Fort zuliefen, und die glitzernden Lichter des großen Hafens nebenan.
Die heutige Festung auf dem Landguard Point ist ein Hybridbau, der die Jahrhunderte miteinander vereint. Die fünfeckige Struktur mit ihren Bollwerken an jeder Ecke war 1744 erbaut, aber 1871 stark verändert und modernisiert worden. Allerdings hatte es seit den Tagen von Henry VIII. schon immer eine Art von Befestigungsanlage hier gegeben, denn der Hafen von Felixstowe ist das tiefste Gewässer zwischen der Themse und dem Humber und daher seit jeher von großer strategischer Bedeutung. Wenn es einem Feind gelänge, hier Truppen zu landen, wären sie gefährlich nahe an London. Die letzte feindliche Invasion Englands fand 1667 statt, als die Niederländer das Fort angriffen. Ihr Plan war es, die Schiffe im Hafen niederzubrennen. Doch die Garnison, die im Landguard Fort abgestellt war, verteidigte es hervorragend, obwohl sie stark in der Unterzahl war, und so wurden die niederländischen Truppen erfolgreich abgewehrt.
In dieser Nacht hatte es den Anschein, als wäre eine neue Invasion im Gange. Als Conor sich der Feste weiter näherte, verschlug es ihm fast die Sprache angesichts solcher Menschenmassen. Tausende hatten sich versammelt. Sie füllten den kleinen Parkplatz, standen auf den Erdwällen ringsum und pressten
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