Dann muss es Liebe sein
weiche einen Schritt zurück, denn ich habe das Gefühl, fehl am Platz zu sein, in ihre Privatsphäre einzudringen.
»Lass dir Zeit, ehe du wieder zur Arbeit kommst«, sage ich unbeholfen, um die Stille zu durchbrechen. »Mach dir keine Gedanken um die Praxis.« Ich drehe mich wieder zu Ben um. Sein Gesicht gleicht einer Maske. Er hat einen Kaffeefleck auf dem Hemd, und seine hohe Stirn glänzt im Schein der Lampen. Sein schütter werdendes Haar steht ihm vom Kopf ab, als sei es statisch aufgeladen. Er ist ein Ex-Rugbyspieler mit schief zusammengewachsener Nase und einem stämmigen Körper, doch in diesem Moment wirkt er vollkommen kraftlos.
»Wie lange muss sie noch hierbleiben?«, frage ich und zwinge meinen Atem an dem Klumpen in meiner Kehle vorbei.
»Ein paar Tage«, antwortet Ben ruhig. »Sie müssen die Wehen einleiten.«
Im ersten Moment verstehe ich nicht, was er meint, aber dann wird mir mit einem Übelkeit erregenden Gefühl klar, dass das Baby noch in ihr ist und sie es unter Schmerzen zur Welt bringen muss.
»Ich bin hier«, sagt Emma leise. »Ich brauche keinen verdammten Dolmetscher. Ich bin nicht krank.«
»Scht, Schatz«, beruhigt Ben sie zärtlich. »Warum legst du dich nicht hin, und ich decke dich zu? Du brauchst jetzt Ruhe.«
»Ich brauche überhaupt nichts. Ich will nach Hause …« Emma sieht mich verwirrt an, und ich frage mich, ob man ihr etwas gegeben hat – Beruhigungsmittel vielleicht. »Die lassen mich nicht nach Hause.«
»B-bald«, stottere ich, und es gelingt mir beinahe, meine Emotionen unter Kontrolle zu halten.
Doch dann fällt mein Blick wieder auf die Tasche, deren Inhalt sich über den Boden ergossen hat – ein paar winzige Windeln, ein rosafarbener Body und ein Päckchen Traubenzucker. Da verliere ich die Beherrschung. Die ganze Wucht von Emmas Verlust bricht über mich herein.
»Ich … ich muss gehen«, sage ich und mache eine unbestimmte Geste in Richtung Tür, als mir die Tränen übers Gesicht zu laufen beginnen. Ben begleitet mich in den Flur hinaus.
»Danke, dass du gekommen bist, Maz. Ich weiß, dass Emma dir auch dankbar sein wird, wenn es ihr wieder ein bisschen besser geht.«
»Wisst ihr, was passiert ist?«, frage ich und halte den Blick dabei starr auf die Tür am Ende des Flurs gerichtet, damit Ben nicht sieht, wie nah mir das Ganze geht.
»Wir vermuten eine vorzeitige Plazentalösung«, erwidert er. »Der Mutterkuchen hat sich von der Gebärmutter abgelöst. Dafür gibt es keinen besonderen Grund. So etwas passiert manchmal einfach.«
Ich bewundere Bens Selbstbeherrschung, und natürlich ist es immer leichter, eine schlechte Nachricht zu überbringen, als sie zu erhalten, aber hier draußen bricht auch sein Schutzwall zusammen.
»Ich bin fix und fertig, aber Emma … nach allem, was sie durchgemacht hat …« Seine Stimme bricht. »Es war für uns beide schwer, jeden Monat wieder aufs Neue, dieses Gefühl des Scheiterns …«
Wahrscheinlich spricht er von der Zeit, als sie einfach nicht schwanger wurde. Ich bin überrascht, dass er so offen zu mir ist – was persönliche Dinge angeht, war er immer sehr zurückhaltend. Ich drehe mich wieder zu ihm um und trockne mir mit dem Ärmel meiner Bluse die Augen.
»Kann ich irgendetwas für euch tun?«, sage ich verlegen. »Soll ich euch etwas holen?«
»Könntest du dich um Miff kümmern?« Ben gibt mir den Schlüssel für ihr Haus in der Neubausiedlung. Miff ist ihr Border Terrier, eine etwas strubbelige, aber unglaublich liebenswerte kleine braune Hündin. Ich habe mich schon früher um sie gekümmert, und sie ist absolut pflegeleicht. Dankbar ergreife ich die Gelegenheit, mich nützlich zu machen. Doch meine Motive sind nicht ganz uneigennützig. Es fällt mir leichter, die verstörte Miff abzuholen, sie zu füttern und mit ihr Ball zu spielen, als mich meinen Gefühlen zu stellen.
Zurück in der Wohnung über der Praxis setze ich mich aufs Sofa und lege die Füße hoch, weil ich nicht einschlafen kann. Miff winselt und zappelt auf meinem Schoß herum, und erst als ich mich allmählich entspanne, wird auch sie ruhiger. Sie legt eine Pfote auf meinen Arm und hebt ein Hinterbein, als wollte sie mich auffordern, ihr den Bauch zu kraulen.
Ich rufe Alex nicht an. Alles, woran ich denken kann, ist Emma. Wie sie sich fühlt, wie lange sie in den Wehen liegen wird, wie lange sie die Schmerzen aushalten muss. All diese körperlichen und seelischen Qualen – für nichts und wieder nichts.
Ich melde mich
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