Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
schmaler Fußweg führt außen an der Mauer entlang, manchmal so nah am Abgrund, dass mir schwindelig wird. Verkrüppelte Kiefern krallen sich in den Fels, ich schließe die Tür sorgfältig hinter mir und mache mich an den Abstieg. Die Luft ist feucht, aber mild, mit einer Hand halte ich den Zipfel meines Umhangs, damit ich nicht darüber stolpere, die andere lasse ich am Fels entlanggleiten. Die ungewohnte Höhe lässt heiße Schauer durch meinen Bauch fahren und ich denke an Miley.
Wenn er das sehen könnte, denke ich, das Meer und die aufgehende Sonne, die winzigen Fischerboote, die schläfrig auf dem Wasser schaukeln, und den Punkt, an dem sich Himmel und Meer berühren.
Ein Stein rollt unter meinen Füßen weg und poltert in die Tiefe. Es ist keine Zeit, um an Miley zu denken. Keine Zeit.
Noch immer konnten wir Emma nicht treffen. Mum erzählte uns, dass sie erneut Fieber bekommen hatte. Ich hatte in Mums Augen geforscht, konnte darin aber nichts als die Wahrheit entdecken. Trotzdem. Tief in mir drin brodeln Sorge und Misstrauen. Was wollen die anderen Hüterinnen von uns? Glauben sie uns nicht? Werden sie uns ihre Hilfe verweigern?
Ich halte kurz inne und atme tief die Meeresluft ein. Nun kann ich den Strand sehen. Ein schmaler, sandiger Streifen, als hätte jemand mit einem Stück Kreide einen dicken Strich gezogen, eine Grenze zwischen Land und Meer. Die letzten Meter sind so steil, dass ich mich rückwärts hinabgleiten lasse. Über mir ragt das Kloster auf. Mächtig und zeitlos wacht es über diesen Ort. Tief sinke ich im Sand ein, ich streife meine Schuhe ab und lasse sie an den Felsen zurück.
Ich wende mich nach Süden, das Meer umspült sacht meine nackten Füße, benetzt meine Haut. Wieder raffe ich den weißen Umhang, dessen Saum nass und schwer geworden ist. Nun erwachen auch die Möwen, hoch über mir gleiten sie über den Himmel, folgen meinem Weg, ihre Schreie fordern mich auf zu laufen, den Weg zu gehen, den Hunderte Hüterinnen vor uns gegangen sind, schweigend und aufrichtig. Unsere Vorfahren waren alle hier gewesen. Granny und Emma hatten ihre Füße in dasselbe Meer getaucht, Vincenta und Victoria waren hier ausgebildet worden, bevor sie sich vom Orden lösten.
Nach einer Weile weichen die steil aufragenden Felsen zurück und der schmale Streifen Strand wird breiter. Ich biege um einen massiven Felsblock, dahinter öffnet sich die Landschaft, die Felsen werden weniger und endlose Dünen erstrecken sich, so weit ich sehen kann. Strandhafer zittert im sachten Wind, die schlanken Halme rascheln silbern in der Morgendämmerung. Für einen kurzen Moment vergesse ich, warum wir hier sind und welche Aufgabe noch auf uns wartet. Die Wildheit der Landschaft fängt mich ein, wie anders ist es hier, wie neu und wie uralt zugleich. Ohne zu wissen, warum, breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus, ein Lächeln, das mein Herz leicht werden lässt.
Doch dann sehe ich sie. Weit entfernt, eine schwarze, unbewegliche Silhouette. Ich stolpere über meinen Umhang, der sich zwischen meinen Beinen verheddert, als ich wieder aufblicke, ist die Gestalt verschwunden. Ich lege meine Hand über die Augen, die Sonne löst sich vom Horizont und durchbricht gleißend die Schleierwolken. Da ist sie wieder. Etwa hundert Meter weiter, auf den Dünen, völlig regungslos. Selbst ihr Haar, dieser wirre, verknotete Turm, wird nicht vom leichten Wind bewegt, und als ich sie erkenne, macht sich die alte Wut in meinem Körper breit. Ich beginne, ihr entgegenzulaufen, das Meer bremst mich, doch seit der Initiation fällt mir auch das leicht. Das Laufen. Das Kämpfen. Wie besessen haben wir auf Whistling Wing weitertrainiert. Die Kraft schien unendlich zu sein. Und mit unseren täglichen Trainingseinheiten wurden die Gedanken an Miley erträglicher. Wenn ich kämpfte, konnte ich Miley für einen kurzen Augenblick vergessen. Wenn ich gegen Indie kämpfte, gewann meine Wut Oberhand, mein Wille zu zerstören war grenzenlos. Und so stark und schnell Indie auch war, manchmal schmetterte ich sie mit einem einzigen Schlag zu Boden. Ich wusste, dass dies nicht meine Geschicklichkeit ermöglichte, sondern meine Sehnsucht nach Rache. Diese Sehnsucht tobt in mir und lässt mich gespannt sein wie ein Bogen. Sie schärft meine Sinne und zerrt an meiner Geduld. Wenn ich Indie traf, blitzschnell, an einem Punkt, der sie hätte töten können, rollte sie sich ab wie eine Katze. Sie war keine Zielscheibe für meine Wut. Sie war weich
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