dark destiny
Fieber für ein paar Minuten freigab. Mein Herz begann hart und wild zu schlagen, als mir klar wurde, was wir da sahen. Es war ein Sonnenuntergang - unser allererster Sonnenuntergang.
Wie gerne hätte ich ihn Neel gezeigt.
Graves zeigte auch in der folgenden Nacht einen unermüdlichen Einsatz, was die Steuerung des Schiffes betraf. Er probierte alles aus, rollte das Segel auf, zog es den Mast hoch, drehte es nach links und nach rechts und murmelte dabei Worte wie »Steuerbord«, »Achtern« und »Luftwiderstand«. Wenn er etwas Neues herausfand, folgten Lehrstunden, in denen er alles an uns weitergab und uns unter seinen kritischen Blicken üben ließ.
Vermutlich hatte er in den letzten Wochen einiges über Boote gelesen und ich hoffte, dass es sich nicht bloß um ausgedachte Geschichten gehandelt hatte. Doch nachdem wir bisher damit zufrieden gewesen waren, nicht zu sinken, bekam ich langsam das Gefühl, dass Graves das Boot und die Richtung, in die es fuhr, wirklich kontrollierte.
Als er eine Pause machte, da für den Augenblick alles richtig zu funktionieren schien, rief er mir zu: »Joy, wie soll dein Schiff überhaupt heißen?«
Ich sah zu Neel, aber für ihn war ich weiterhin Luft. Er hielt sich im Bug auf und starrte aufs Meer. Mir war klar, dass er Matthials Anwesenheit nicht ertrug. Und meine ebenso wenig.
»Braucht es einen Namen?«, fragte ich skeptisch. Was sollte es damit anfangen?
Graves nickte wichtig. »Natürlich. Jedes Schiff hat einen Namen. Zumeist einen weiblichen. Ich vermute, weil echte Frauen auf See Unglück bringen und die Seemänner trotzdem nicht ganz ohne Frau hinausfahren wollen.«
»Ach ja? Wie viele Schiffe und Seemänner kennst du denn?«
Matthial hustete, es klang fast wie ein Lachen, und verschluckte sich prompt. Edison half ihm, etwas zu trinken.
»Es muss sein.« Graves wurde fast ärgerlich. »Wir können nicht die ganze Zeit im Nirgendwo herumschippern. Wir sollten den Ort, an dem wir sind, benennen können, und sei es nur durch den Namen, den unser Boot trägt. Außerdem«, er wandte sich ab, als wäre es ihm peinlich, »bringt es einfach Unglück, auf einem namenlosen Schiff zu fahren.«
Wenn es ihm so wichtig war ... »Gib du ihm einen, Graves. Es ist mehr dein Schiff als meins.« Um ehrlich zu sein, war mir das Boot immer noch nicht ganz geheuer mit seinem Schwanken und Schaukeln. Die See war zwar recht ruhig, aber ich konnte mich dennoch nicht daran gewöhnen.
»Daisy«, rief Graves wie aus der Pistole geschossen, verdrehte dabei aber die Augen, als Zeichen, dass es ein Scherz sein sollte und er den Namen schrecklich fand.
»Desire«, schlug Josh vor.
Neel aber formte ein Wort mit den Lippen, das ich laut aussprach. »Destiny.« Und weil Neels Miene sogleich düsterer wurde, verbesserte ich mich: »Nein. Dark Destiny.«
»Das ist gut!« Graves hob den verkohlten Pfeil auf, den die Menschen im Hafen auf uns abgeschossen hatten, schwenkte ihn wie eine Trophäe und reichte ihn mir mit einer spöttischen Verbeugung. »Richtig optimistisch. So soll sie heißen: Dark Destiny.« Er zeigte mir die Stellen am äußeren Schiffsrumpf, an denen ich den Namen auf das Holz schreiben sollte.
Es behagte mir überhaupt nicht, mich so weit hinauszulehnen. Meine Haare flatterten im Wind und die Spitzen hingen bis ins Wasser. Ich stellte mir vor, dass Fische danach schnappen und in den Strähnen hängen bleiben würden.
Warum tat ich das überhaupt? Die Kohle würde ohnehin nach kürzester Zeit wieder abgewaschen sein - und dennoch gab ich mir größte Mühe. Als ich fertig war, verspürte ich tatsächlich ein klein wenig Leichtigkeit. Wir lächelten uns gegenseitig an, der Augenblick hatte trotz allem Kummer etwas Feierliches. Ich suchte Graves' Blick und nickte ihm dankbar zu. Es war gut, den Namen auf das Schiff gemalt zu haben. Nun waren wir nicht mehr im Nirgendwo, verloren auf dem unendlichen Meer. Es gab einen Ort, an dem wir uns befanden.
Wir waren auf der Dark Destiny.
38
der kompass muss sich irren,
oder warum zieht mich alles
in die entgegengesetzte richtung?
Neel weckte Joy in den Morgenstunden und hatte nur den Plan, etwas Wichtiges zu klären und dann wieder zu gehen.
»Wenn der da stirbt«, flüsterte er, »dann sag mir Bescheid.«
Sie legte schlaftrunken den Kopf schief, weil sie nicht verstand, was er damit meinte.
»Wegen Edison.« Der Zwerg hatte sich ausgerechnet an den ehemaligen Clanführer gehängt und aus irgendeinem Grund bedeutete er ihm
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