DARK MISSION - Fegefeuer
Jessies Hand.
»Pass gut auf ihn auf!« Matilda nahm ihr den Stein aus der Hand, steckte Anhänger und Lederband unter Jessies Top. Dann zog sie den Reißverschluss der Neoprenjacke zu. Jessie fühlte den Obsidian schwer auf ihrer Brust liegen, warm war er und hatte etwas Beruhigendes in seiner Solidität. »So dann«, sagte die alte Hexe. »Muss nicht jeder wissen.«
Impulsiv umarmte Jessie Matilda. »Danke!«, sagte sie. »Allein schon, dass ich hier sein durfte, wenn auch nur für diese kurze Zeit …«
Matilda erwiderte die Umarmung, eine Hand auf Jessies Rücken, eine in ihrem Nacken. »Du allein«, flüsterte sie Jessie ins Ohr, »darfst von dieser Zuflucht sprechen. Gebrauche dieses Vorrecht mit Bedacht!«
Jessie riss die Augen auf. Aber Matilda löste die Umarmung, trat zurück, wandte sich zum Gehen. Schweigend führte sie Jessie hinunter an den Steg. Silas wartete am Kanu auf die beiden Frauen. Jessie nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte und ließ sich in das Kanu aus Metall helfen.
Kaum dass sie saß, ließ er sich hinter ihr nieder. Er streckte seine Beine rechts und links von ihr aus, seine Oberschenkel ein Rahmen für Jessies Hüften, seine Brust die Lehne für ihren Rücken. Als Silas das tat, erwärmte sich der Stein zwischen ihren Brüsten, strahlte seine Hitze ab, wärmte Jessie das Herz.
Ja, dachte sie und legte ihren Kopf an Silas’ Schulter. Das schwindende Licht des Tages verwandelte sich in die Schwärze der Nacht. Ja, dachte Jessie, ich weiß.
Lautlos glitt das Kanu durch das Wasser des Stroms.
Silas schwieg. Er hielt Jessie nur in den Armen, an seine Brust gelehnt, sein Kinn ruhte auf ihrem Kopf. Er betrachtete die Klippenwände, die in der Nachtschwärze des Grabens verschwammen.
Als es an der Zeit für Jessie und Silas war auszusteigen, nahm Matilda, ganz kurz nur, Silas’ Gesicht in beide Hände und drückte ihm je einen Kuss auf beide Wangen. Ihre Lippen waren trocken und fest. Das spürte er trotz seines Dreitagebarts.
Silas glitt über die Bordwand hinein ins eisige Wasser. Jeden Gedanken, jedes bisschen Atemluft in seinen Lungen presste die Eiseskälte aus ihm heraus. Er wartete, bis Jessie neben ihm war. Dann nahm er ihre Hand und hielt sie fest, während er gegen die Strömung anschwamm, die Jessie und ihn erbarmungslos stromabwärts riss.
Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis Silas’ Füße Grund fanden. Jetzt, da sie den Saum des Riffs, von dem aus die Klippen in die Höhe wuchsen, gefunden hatten, erlaubte er sich einen kurzen Moment der Erleichterung. Silas fasste nach, packte Jessies eiskalt gewordene Hand fester und zog sie näher an die Felskante des Riffs heran. »Rauf da!«, rief er.
Ob sie ihn verstanden hatte, konnte er nicht erkennen. Aber dann, langsam und am ganzen Leib vor Kälte und Anstrengung zitternd, setzte sie den einen Fuß auf seine Hüfte, den anderen auf seine Schulter. Ihr schwerer Stiefel stieß gegen seine verletzten Rippen, und Silas musste die Zähne fest zusammenbeißen, damit er nicht vor Schmerz fluchte und Jessie es hörte.
Sie brauchte nicht zu wissen, wie schwer er verletzt war.
Endlich drückte ihn ihr Gewicht nicht mehr tiefer ins Wasser. Sekundenbruchteile danach spürte er ihre kalten Finger um sein Handgelenk. Sie zog. Trotzdem musste er sich mehr anstrengen, als ihm lieb war. Aber mit Jessies Hilfe und weil Eigensinn und Stolz all seine Kräfte mobilisierten, gelang es Silas, aus dem Wasser zu kommen.
Bibbernd vor Kälte klapperte er mit den Zähnen und kam auf die Füße. Die Lichtverhältnisse hier waren jämmerlich. Man konnte kaumdie Hand vor Augen sehen; gerade einmal Jessies Gestalt war zu erahnen. Jessie hatte die Arme eng um den eigenen Leib geschlungen.
»He…her…rrr i…im Hi…mm…el!«, sagte sie, während ihre Zähne vor Kälte hörbar aufeinanderschlugen.
Silas fasste Jessie bei den Schultern. »Komm, hier lang!«, forderte er sie auf, und seine Stimme war rau vor Anstrengung und Kälte. Es schien ein ganzes Leben her zu sein, dass er es mit Jessie im Wasser einer heißen Quelle getrieben hatte. In der Eiseskälte des Hier und Jetzt führte er Jessie vom Rand der Felsnase fort.
Jessie fuhrwerkte in einer ihrer Jackentaschen herum, während sie neben ihm herstolperte. »Hier!« Es hatte sie einige Mühe gekostet, den Reißverschluss der Jackentasche aufzuziehen. Jetzt angelte sie das Com-Gerät heraus, das er ihr gegeben hatte, lange bevor sie beide hinunter in die Tiefe gestürzt waren, und
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