Darkover 16 - Die Winde von Darkover
bestand keine Blutrache zwischen ihnen und den Storns und keine Verpflichtung Brynat gegenüber. Sie hielt es allerdings für unwahrscheinlich, daß sie Storn zu dieser Zeit zu Hilfe kommen wollten oder konnten. Ihre Großmutter entstammte der Sippe der Leyniers, die wiederum verwandt mit der großen Comyn -Domäne von Alton waren, doch hier in den Bergen hatte nicht einmal der Comyn -Rat etwas zu sagen.
Melitta fiel es nicht ein, ihren Bruder zu kritisieren, und trotzdem kam ihr der Gedanke, daß er, der doch wußte, wie schwach er war, durchaus einen Versuch hätte machen können, sich unter den Schutz eines der mächtigen Berglords zu stellen. Nur hatten die Abgründe und Klippen rund um Storn die Burg bisher uneinnehmbar gemacht, und - ein Storn sollte einem anderen Haus den Treueid leisten? Niemals!
Er hätte Allira - oder mich - an einen Sohn aus großem Haus verheiraten können. Dann hätten wir Blutsverwandte, um uns zu beschützen - bloß ist der Rücken, den kein Bruder bewacht!
Nun, er hatte es nicht getan, und es war längst zu spät, darüber nachzugrübeln - Küken können nicht in die Eier zurückgeschickt werden! Der böse Vogel, den dies Versäumnis ausgebrütet hatte, war draußen und flog, und allein Melitta besaß die Freiheit und die Kraft, etwas aus dem Untergang zu retten.
Das Lämpchen in der Hand, trat sie vor ihre Truhe. Sie konnte nicht in langen Röcken und Mänteln fliehen. Am Grund der Truhe lag ein alter Reitmantel, dickes, schweres Tuch aus dem Tal, mit Pelz gefüttert. Er war nicht kostbar genug, um in einem Menschen, dem sie begegnete, Habgier zu erwecken, aber er war warm und haltbar. Da war eine alte und schäbige Reithose ihres Bruders, mit Leder besetzt, die sie bei Ritten über ihr Besitztum getragen hatte. Das war eine klügere Wahl als ihr eigener langer, weiter Reitrock. Sie fügte eine Strickbluse, eine dicke, gefütterte Jacke, aus dem gesponnenen Pelz des Schmiedevolkes gestrickte Socken und ihre Pelzstiefel hinzu. Sie machte ein Päckchen aus Wäsche zum Wechseln und ein paar kleinen Schmuckstücken, die sie unterwegs gegen Hilfe verkaufen oder eintauschen konnte. Schließlich flocht sie ihr Haar und versteckte es unter einer Wollmütze. Dies getan, löschte sie die Lampe und ging wieder zum Balkon. Bis zu diesem Augenblick hatten die Vorbereitungen für die Reise die eigentliche Voraussetzung in den Hintergrund gedrängt: Wie sollte sie aus der Burg hinausgelangen?
Es gab Geheimgänge. Sie kannte einige von ihnen. Einer führte zum Beispiel aus dem Weinkeller nahe dem Verlies ins Freie. Sie brauchte nur den Weinkeller zu erreichen, um den Geheimgang betreten zu können. Ganz einfach. Und was würden ihre Wachen tun, während sie die Treppe hinunterstieg und in den Weinkeller ging, wobei es ihr noch gelingen mußte, sie draußen zu lassen? Wein trinken? Das wäre gut, wenn sie sie betrunken genug machen konnte, aber bestimmt würden sie alles, was sie ihnen anbot, mit Argwohn betrachten und vor einer List auf der Hut sein.
Ein anderer Ausgang - wer ihn geheim nannte, drückte damit nur aus, daß er seit Jahren unbenutzt war und niemand sich mehr die Mühe machte, ihn zu bewachen - war der Tunnel, der hinunter in die Klippen und zu den verlassenen Schmieden führte. Dort hatte in früheren Zeiten das dunkle, kleinwüchsige Bergvolk die Feuer verehrt, die seine Werkstätten erhellten. Dort hatte es die alten Schwerter und die mit seltsamen Eigenschaften begabten Artefakte hergestellt, die von solchen, die sie nie in Gebrauch gesehen hatten, magisch genannt wurden. Feuer und Schmieden waren seit Jahrhunderten still, die kleinen Leute hatten sich tiefer in die Berge zurückgezogen. Die Storns waren erst gekommen, als sie schon lange gegangen waren. Ihre Höhlen und leeren Behausungen hatte Melitta als Kind mit ihren Brüdern und ihrer Schwester erforscht. Das Schmiedevolk und all seine Magie waren dahin. Die armen und verstreuten Überreste lebten nun in Dörfern nahe Storn, und sie waren zusammen mit den Bauern gefangengenommen und weggetrieben worden. Sie waren hilfloser als Melitta selbst.
Von neuem blickte sie über den Balkon, und ihr Mund verzog sich zu etwas, das in besseren Zeiten ein Lächeln hätte sein können. Ich brauche Flügel , dachte sie. Meine Wachen fürchten sich zu sehr vor Brynat, um mich hier zu belästigen. Solange ich dies Zimmer nicht verlasse, werden sie draußen im Flur bleiben und ihm schwören, ich sei drinnen.
Weitere Kostenlose Bücher