Darkside Park: Mystery-Thriller (German Edition)
Irgendwann versuche ich, die Augen zu schließen. Im Schutze der Finsternis kehren die Bilder zurück. Der blutgetränkte Leichnam, das blasse Gesicht von Mr. Gardener. Und das andere Gesicht, das leuchtende mit den Augen aus Feuer. Ich reiße die Augen auf und schnappe nach Luft. Es dauert lange, bis mein Herz aufhört, gegen meinen Brustkorb zu hämmern.
Ich liege da und starre an die Zimmerdecke. Ich warte auf den Morgen. Irgendwann erinnere ich mich an die Spielkarte, die auf Mr. Gardeners Brust lag, und hole sie aus meiner Westentasche. Ihre Rückseite ist klebrig. Ich lege sie auf den Tisch und wasche das geronnene Blut von meinen Fingern. Ihre Vorderseite zeigt eine Art Scheibe, in deren Rand vier Buchstaben sind: T, E, M, I. Um die Scheibe herum versammeln sich absonderliche Wesen; eine Sphinx, eine Schlange, mehrere Chimären. Es ist eine Tarotkarte.
Der Himmel färbt sich blau, und ich wickele die Karte in ein Taschentuch. Die Sonne erklimmt die Dächer, und die Petroleumlampen verblassen. Ich lösche die Lichter und mache mich auf den Weg.
Als ich in die Redaktion komme, ist Brockman bereits da. Die Polizeimeldungen liegen in der Ablage.
»Sind die von heute?«, frage ich.
Brockman nickt. »Hab ich gerade eben abgeholt.«
»Irgendwas Besonderes dabei?«
»Zwei Schlägereien unten in Carget, ein Einbruch und die Vermisstenmeldungen«, sagt Brockman. »Das Übliche halt.«
»Sonst nichts?« Mein Kopf wird plötzlich sehr schwer.
»Schauen Sie doch selbst nach. Liegt doch alles da.«
Ich blättere durch die Meldungen. Zweimal. Keine betrifft den St. Helena Park, nirgendwo ist von einer aufgeschlitzten Kehle die Rede, von einem Toten mit einem rot grinsenden Mund. Die Polizei sucht keine Zeugen, sie leitet keine Fahndung ein, sie bittet die Bevölkerung nicht um ihre Mithilfe. Die Polizisten wussten, wo die Leiche lag. Und wahrscheinlich wissen sie auch, wer der Mörder ist. Aber sie berichteten von keinen Verhaftungen. Ich lege die Hände auf meinen Kopf. Er drückt von innen. Wie ein prall gefüllter Wasserschlauch.
Nach und nach füllt sich die Redaktion. Begrüßungen, Kopfnicken, Pfeifenrauch. Die ersten Schreibmaschinen nehmen ihre Arbeit auf. Immer wieder schaue ich zu Terrys Platz hinüber. Er bleibt unbesetzt.
Eine Beklemmung presst sich durch meine Gedärme. Als sie meinen Hals erreicht hat, gehe ich zu Mr. Mac Kingsley und lasse mir Terrys Adresse geben.
Er wohnt außerhalb des Stadtzentrums, in Carget, unten am Hafen. Die Häuser stehen hier näher beisammen, die Fassaden neigen sich in absurden Winkeln Richtung Mittagssonne. Ab und an berühren sich die Giebel zweier gegenüberstehender Häuser, formen ein Dach über den engen, verwinkelten Gassen. Ein ständiger Wechsel aus Licht und Schatten. Ich brauche einige Zeit, um mich zurechtzufinden.
Terrys Vermieterin, eine stämmige Frau mit lauter Stimme, erzählt mir, dass sie ihn seit gestern Morgen nicht gesehen habe.
»Aber gehört habe ich ihn«, fügt sie hinzu. »Anscheinend hatte er letzte Nacht Besuch – obwohl das nach zehn Uhr strengstens untersagt ist! Ich wollte ihm sowieso noch die Leviten lesen. Hat mir den ganzen Boden mit seinen schlammigen Stiefeln eingesaut! Aber der Kerl macht die Tür nicht auf. Der weiß schon, warum.« Sie schüttelt den Kopf. »War immer so ein anständiger Mieter … na ja, man steckt halt nicht drin in den Leuten.«
Ich gehe durch den Flur, vorbei an Küche und Esszimmer, eine schmale Treppe hinauf. Sie endet an einer Tür. Ich klopfe.
Stille. Nichts rührt sich.
Ich klopfe ein zweites Mal und lege mein Ohr an das raue Holz.
Schnelle leise Schritte.
»Terry?«, rufe ich. »Ich bin’s. Samuel.«
Keine Antwort.
Ich drehe den Türknauf. Es ist abgeschlossen.
»Ich muss mit Ihnen reden«, sage ich. Immer noch Stille.
Dann ein Flüstern – so leise, dass es kaum seinen Weg nach draußen findet: »Gehen Sie!«
»Terry?«, frage ich. »Terry, sind Sie das?«
»Gehen Sie!« Dieses Mal schon etwas lauter.
»Es ist wichtig«, sage ich. »Machen Sie doch bitte die Tür auf.«
Wieder Stille.
»Terry? Sind Sie noch da?«
Der Schlüssel dreht sich im Schloss, die Tür öffnet sich einen Spalt. Das Gesicht eines Greises. Augen, tot wie Glasperlen. Umringt von schwarzen Gräben. Er ist über Nacht gealtert.
»Was … was ist Ihnen zugestoßen?«, frage ich.
»Gehen Sie«, sagt Terry. »Verlassen Sie diese Stadt, solange Sie noch können!«
Der Spalt schließt sich, und ich stelle meinen
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