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Das 1. Buch Des Blutes - 1

Das 1. Buch Des Blutes - 1

Titel: Das 1. Buch Des Blutes - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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lief der Junge zur Tür und versuchte, sie aufzukrallen. Sie war abgeschlossen und verriegelt.
    »Was’n das für’n Lärm, Junge?«
    Eugene stieß seinen Sohn beiseite und fummelte mit dem Schlüssel im Schloß herum, während Aarons Vater durch die Tür nach seinem Kind rief. Seine Stimme klang wie ein dahinstürzender Wasserfall, kontra-punktiert von weichen, pfeifenden Seufzern. Es war eine leidenschaftliche Stimme, eine liebevolle Stimme.
    Mit einem Mal schien Eugene zu begreifen. Er packte den Jungen bei den Haaren und zerrte ihn von der Tür weg.
    Aaron quiekte schrill vor Schmerz.
    »Papa!« gellte er.
    Eugene hielt sich selbst für den Adressaten des Schreis, aber auch Aarons wahrer Vater hatte die Stimme des Jungen gehört. Seine Antwort war von schneidenden Tönen der Besorgnis durchzogen.
    Von draußen hatte Lucy den Stimmenwechsel gehört. Sie kam aus dem Schutz ihres Schuppens heraus und wußte, was sie vor dem Hintergrund dieses schimmernden Himmels sehen würde; aber nichtsdestoweniger wurde ihr schwindlig von den koloßhaften Geschöpfen, die sich rings um das Haus versammelt hatten. Bange Qual durchfuhr sie bei der Erinnerung an die für immer entschwundenen Freuden jenes Tages vor sechs Jahren. Alle waren sie da, die unvergeßlichen Geschöpfe, eine unglaubliche Auswahl an Formen und Gestalten…
    Pyramidenförmige Köpfe aus rosenfarbenen, klassisch proportionierten Rümpfen, die schirmartig in sich überlappende, bewegliche Spitzenröcke aus Fleisch übergingen. Eine kopflose silberne Schönheit, deren sechs Perlmuttarme kreisförmig um ihren schnurrenden, pulsierenden Mund angeordnet hervorsproßten. Ein Geschöpf wie das Wassergekräusel auf einem rasch dahinströmenden Fluß, stetig, aber in Bewegung, süß und gleichmäßig der Ton, den es von sich gab.
    Kreaturen, zu phantastisch, um real zu sein, zu real, um sie anzuzweifeln; Engel des Herdes und der Schwelle. Einer hatte einen Kopf, der sich auf einem spinnwebzarten Hals wie irgendeine aberwitzige Wetterfahne hin und her bewegte, blau wie der frühe Nachthimmel und von einem Dutzend Augen wie von ebensovielen Sonnen durchschos-sen. Ein anderer Vater, sein Körper wie ein Fächer, der sich in seiner Aufregung öffnete und schloß; sein orangefarbenes Fleisch schlug in satteres Rot um, als sich die Stimme des Jungen wieder vernehmen Üeß.
    »Papa!«
    An der Haustür stand das Wesen, an das sich Lucy mit größter Zuneigung erinnerte, das sie als erstes berührt, als erstes ihre Ängste beschwichtigt hatte, als erstes, unendlich zartfühlend, in sie einge-drungen war. Es war vielleicht sechs Meter groß, wenn e» sich zu seiner vollen Höhe aufrichtete. Jetzt hatte es sich zur Tür herabgebückt; sein kolossaler, haarloser Kopf, wie der eines Vogels, den ein Schizophrener gemalt hat, beugte sich eng ans Haus heran, als es mit dem Kind redete. Es war nackt, und sein breiter dunkler Rücken schwitzte, als es sich niederkauerte.
    Drinnen im Haus zog Eugene den Jungen, als Schutzschild, nah in sich heran.
    »Was weißt du, Junge?«
    »Papa?«
    »Was weißt du, sag ich!«
    »Papa! «
    Jubel klang aus Aarons Stimme. Das Warten war vorbei.
    Die Vorderseite des Hauses wurde eingedrückt. Ein Körperglied von der Form eines Fleischhakens wand sich unter dem Türsturz durch und zerrte die Tür aus ihren Angehl. Ziegel flogen hoch und prasselten wieder herunter. Holzsplitter und Staub erfüllten die Luft. Wo einmal sichere Dunkelheit gewesen war, ergossen sich jetzt Katarakte aus Sonnenlicht auf die zwergenhaft erscheinenden Menschengestal-ten in den Ruinen.
    Eugene spähte durch den Staubschleier nach oben. Gerade wurde das Dach von gigantischen Händen abgepellt, und schon war Himmel, wo Gebälk gewesen war. Ringsum sah er die Gliedmaßen, Leiber und Gesichter undenkbarer Bestien sich hochtürmen. Spielerisch brachten sie die noch übrigen Wände zum Einsturz und zerstörten sein Haus so lässig, wie er etwa eine Flasche zerschlagen würde. Er lockerte seinen Griff und ließ den Jungen entkommen, ohne daß er sich dessen bewußt wurde.
    Aaron lief zu dem Wesen auf der Schwelle.
    »Papa!«
    Es nahm ihn hoch wie ein Vater, der ein Kind von der Schule abholt, und sein Kopf wurde in einer Woge der Verzückung zurückgeworfen.
    Ein langgezogenes, unbeschreibliches Freudengeheul drang der Länge und Breite nach aus ihm heraus. Der Lobgesang wurde von den anderen Geschöpfen aufgenommen und stieg in feierlichem Einklang weiter an. Eugene hielt sich die

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