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Das 1. Buch Des Blutes - 1

Das 1. Buch Des Blutes - 1

Titel: Das 1. Buch Des Blutes - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Natürlich hatte sie noch andere Verehrer. Eine Frau wie sie…«
    »Eifersüchtige Verehrer?«
    »Wer weiß?«
    Wieder: Wer weiß? Die Frage hielt sich in der Luft wie ein Achselzukken. Wer weiß? Wer weiß? Lewis fing an, Inspektor Marais’ Leidenschaft für die Wahrheit zu verstehen. Zum ersten Mal seit vielleicht zehn Jahren tauchte ein Ziel in seinem Leben auf, der ehrgeizige Wunsch, dieses indifferente »Wer weiß?« aus der Luft zu schießen. Herauszufinden, was in diesem Zimmer in der Rue des Martyrs geschehen war. Keine bloße Annäherung, keine poetisch aufbereitete Darstellung, sondern die Wahrheit, die absolute, unumstößliche Wahrheit.
    »Kannst du dich noch im einzelnen an irgendeinen der Männer erinnern, die auf sie standen?« fragte er.
    Solal grinste. Er hatte nur zwei Zähne im Unterkiefer. »Aber ja. An einen schon.«
    »Wer war das?«
    »Hab’ seinen Namen nie erfahren. Ein großer Mann: hab’ ihn drei-, viermal draußen vorm Haus gesehen. Obwohl, dem Geruch nach hätte man ihn eher …*
    Er zog eine unmißverständliche Grimasse, die besagte, daß er den Mann für homosexuell hielt. Die hochgezogenen Augenbrauen und die gespitzten Lippen ließen ihn hinter seinen dicken Brillengläsern doppelt lächerlich aussehen.
    »Er roch?«
    »Aber ja.«
    »Wonach?«
    »Parfüm, Lewis. Parfüm.«
    Irgendwo in Paris war ein Mann, der das Mädchen gekannt hatte, das Phillipe liebte. Rasende Eifersucht hatte ihn überwältigt. In einem Anfall unbezähmbarer Wut war er in Phillipes Wohnung eingebrochen und hatte das Mädchen abgeschlachtet. Das war so klar wie einleuchtend.
    Irgendwo in Paris.
    »Noch einen Cognac?«
    Solal schüttelte den Kopf. »Ich muß mich sowieso gleich übergeben«, sagte er.
    Lewis rief den Ober, und dabei fiel im zufällig ein Haufen Zeitungs-ausschnitte ins Auge, die hinter der Bar an die Wand gepinnt waren.
    Solal folgte seinem Blick.
    »Phillipe. Er mochte die Bilder«, sagte er.
    Lewis stand auf.
    »Manchmal kam er nur her, um sie anzuschaun.«
    Die Ausschnitte waren alt, fleckig und mehr oder minder vergilbt.
    Manche waren vermutlich von rein lokalem Interesse. Berichte von einem Kugelblitz in einer benachbarten Straße. Ein anderer über einen zweijährigen Jungen, in seinem Bettchen verbrannt. Einer bezog sich auf einen ausgebrochenen Puma; einer auf ein unveröf-fentlichtes Manuskript von Rimbaud; ein dritter (mit dazugehörigem Foto) befaßte sich ausführlich mit Opfern eines Flugzeugabsturzes beim Flughafen von Orleans. Aber auch andere Ausschnitte hingen da, manche um vieles älter als die übrigen. Greueltaten, absonderliche Morde, rituelle Vergewaltigungen, eine Anzeige von »Fantomas«, eine andere von Cocteaus »La Belle et la Bete«. Und aus diesem Wirrwarr der Absonderlichkeiten lugte gerade noch eine Sepia-Fotografie hervor, so abstrus, daß sie von der Hand eines Max Ernst hätte stammen können. Gut angezogene Herren, größtenteils die in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beliebten dicken Schnurrbärte zur Schau tragend, umstanden im Halbkreis den riesenhaften, blutenden Körperkoloß eines Affen, der mit den Füßen an einem Laternenpfahl aufgehängt war. Die Gesichter auf dem Bild prägte der Ausdruck stummen Stolzes, der Ausdruck absoluter Gewalt über die tote Bestie, in der Lewis eindeutig einen Gorilla erkannte. Sein umgekehrter Kopf zeigte im Tod eine fast würdevolle Neigung. Die Stirn war tief und gefurcht, seine - wenngleich durch eine schreckliche Wunde zerschmetterte - Kinnlade zierte ein dünner Bart wie bei einem Aristokraten, und seine in den Kopf verdrehten Augen schienen sich der Erbarmungslosigkeit dieser Welt schmerzlichst bewußt zu sein. Sie erinnerten Lewis an etwas, diese rollenden Augen - an das Wiesel in seinem Loch, wie es sich gegen die Brust klopfte.
    »le coeur humain.«
    Bejammernswert.
    »Was ist das?« fragte er den aknegeplagten Barkellner und deutete dabei auf das Bild mit dem toten Gorilla.
    Ein Achselzucken war die Antwort, gleichgültig gegenüber dem Schicksal von Menschen und Affen.
    »Wer weiß?« sagte Solal hinter ihm. »Wer weiß?«
    Es war nicht der Affe aus Poes Erzählung, soviel war sicher. Diese Geschichte war 1835 erzählt worden, und die Fotografie war weitaus neueren Datums. Außerdem war der Affe auf dem Bild ein Gorilla, eindeutig ein Gorilla.
    Hatte die Historie sich wiederholt? Hatte man einen weiteren Affen, aus einer anderen Gattung zwar, aber nichtsdestoweniger ein Affe, auf den Straßen

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