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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Vogelperspektive anzusehen, während sie mit dem Zeigefinger einen Weg durch die Gänge nachzeichnete. Sie hatte recht.
    Obwohl das architektonische Darstellungsreglement die Deutlichkeit des Abbildes beeinträchtigte, war tatsächlich eine Spirale in dem Irrgarten aus Korridoren und Räumen zu erkennen. Caroles sich im Kreis bewegender Finger zog immer enger werdende Schlingen bei seiner Beschreibung der Figur.
    Endlich langte er bei seinem Ziel an: dem großen Schwimmbecken; dem abgesperrten Schwimmbecken. Jerry starrte schweigend auf den Plan. Carole mußte gar nicht erst darauf hinweisen - er wußte, daß er die Bauskizze eine Woche
    lang hätte anschauen können, ohne je die zugrunde liegende Struktur zu erkennen.
    Carole beschloß, nicht über Nacht zu bleiben. Das heiße nicht, versuchte sie an der Tür zu erklären, daß es zwischen ihnen aus sei; nur sei ihr intimes Zusammensein einfach zu schade, um es als Notverband zu mißbrauchen. Ansatzweise begriff er, was sie meinte; auch in ihrer Vorstellung existierten sie als verwundete Tiere. Wenigstens hatten sie eine Art metaphorisches Leben miteinander gemein.
    Allein zu schlafen war für ihn nichts Ungewohntes. In vielerlei Hinsicht war er in seinem Bett lieber für sich, als es mit jemandem zu teilen, und sei es Carole. Doch heute nacht wollte er sie bei sich haben; das heißt nicht sie, sondern irgend jemand. Er war grundlos gereizt, wie ein Kind. Kaum eingeschlafen, wachte er jedesmal wieder auf, als ob er sich vor Träumen fürchtete.
    Da er Wachsein diesem elenden Schlafgestolper vorzog, stand er irgendwann gegen Tagesanbruch auf, wickelte sich den Morgenrock um den fröstelnden Körper und ging ins andere Zimmer, um sich Tee zu kochen. Der Grundriß war noch immer auf dem Couchtisch ausgebreitet, wo sie ihn gestern abend hatten liegenlassen. Den warmen, süßen Assamtee schlürfend, stand er da und grübelte darüber nach.
    Jetzt, da Carole darauf hingewiesen hatte, konnte er sich - trotz des Marginalienwirrwarrs, der seine Aufmerksamkeit beanspruchte - auf nichts anderes konzentrieren als die Spirale, diesen unbestreitbaren Beweis, daß unter dem scheinbaren Chaos des Irrgartens eine verborgene Hand am Werk war. Die Figur sprang ihm ins Auge und verleitete es dazu, ihrer beharrlichen Route zu folgen, immer im Kreis herum, enger und enger - und wohin? Zu einem abgesperrten Schwimmbecken.
    Nachdem er seinen Tee getrunken hatte, ging er wieder zu
    Bett; diesmal besiegte die Ermüdung seine Nerven, und der ihm bisher verweigerte Schlaf flutete über ihn hin. Um Viertel nach sieben wurde er von Carole geweckt, die anrief, bevor sie zur Arbeit ging, um sich wegen des gestrigen Abends zu entschuldigen.
    »Ich möcht’ wirklich nicht, daß zwischen uns alles schiefgeht, Jerry. Das weißt du doch, oder? Du weißt, daß du mir sehr viel bedeutest.«
    Liebesgeflüster am Morgen konnte er nicht ertragen. Was um Mitternacht romantisch schien, kam ihm bei Tagesanbruch lächerlich vor. Er antwortete auf ihre Bindungsbekundungen so gut er konnte und verabredete sich mit ihr für den folgenden Abend. Dann kehrte er zu seinem Kissen zurück.
    Seit Ezra Garvey das Hallenbad besucht hatte, war kaum eine Viertelstunde vergangen, in der er nicht an das Mädchen dachte, von dem er auf dem Korridor einen flüchtigen Blick erhascht hatte. Beim Essen mit seiner Frau war ihm ihr Gesicht erschienen, und beim Sex mit seiner Geliebten. So frei, dieses Gesicht, so strahlend vor Möglichkeiten.
    Garvey hielt sich für einen ausgesprochenen Frauenliebhaber. Im Unterschied zu den meisten seiner mächtigen Kollegen, deren Gefährtinnen nur bequeme Einrichtungen waren, die man am besten für ihre Abwesenheit bezahlte, wenn sie nicht gerade für einen speziellen Zweck gebraucht wurden, hatte Garvey Freude an der Gesellschaft des anderen Geschlechts. An den Stimmen, dem Parfüm, dem Lachen. Seine Gier nach der Nähe von Frauen kannte nur wenige Schranken; es waren kostbare Geschöpfe; um sich ihre Gesellschaft zu sichern, gab er ohne weiteres kleine Vermögen aus. Sein Jackett war demnach schwer von Geld und teuren Kinkerlitzchen, als er an diesem Morgen zur Leopold Road zurückkehrte.
    Die Fußgänger auf der Straße waren zu sehr damit beschäftigt, sich den Kopf trocken zu halten (ein kalter, ununterbrochener Nieselregen fiel seit Tagesanbruch), um den Mann zu bemerken, der unter einem schwarzen Schirm vor dem Eingang stand, während ein zweiter gebückt an dem Vorhängeschloß

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