Das Achtsamkeits Buch

immer wieder in psychiatrische Stationen aufgenommen werden mussten. Die einfache Anleitung, ganz bewusst die Aufmerksamkeit auf die Fußsohlen zu lenken, wenn sie in Aggression auslösenden Situationen sind, führte zu einer deutlichen Verringerung der Krankenhausaufenthalte (Singh et al., 2007b).
    Doch auch im ganz »normalen« Alltag lassen sich kleine Achtsamkeitsübungen in Form bewusster Aufmerksamkeitslenkung einsetzen.
     
    Sonja B., eine temperamentvolle Buchhändlerin, ist verzweifelt über häufige Streitereien mit ihrem Mann. Beide verletzen einander, nachher tut es ihnen leid, aber sie finden keinen alternativen Weg. Nachdem sie von der 5-4-3-2-1-Methode hört, beschließt sie, diese in Streitsituationen auszuprobieren. Sie übt zunächst, ihre Aufmerksamkeit bewusst auf Dinge der Umgebung – schauen und hören – und den eigenen Körper zu lenken. Als sich dann wieder ein Wortgefecht anzubahnen droht, gelingt es ihr, nicht einzusteigen und kein Öl mehr ins Feuer des Streits zu gießen. Diese Unterbrechung des gewohnten Musters verunsichert den Partner und macht ihn zunächst noch wütender. Bei der Klärung im einige Zeit später folgenden Gespräch ist er dankbar, dass die sonst unweigerlich folgenden Verletzungen unterblieben waren. Sie nimmt sich fest vor, auf diese Weise öfter aus destruktiven Teufelkreisen auszusteigen.
     
    Die zumindest zeitweise Disidentifikation von Gefühlen, Gedanken, Bedürfnissen und dem eigenen Standpunkt ermöglicht es, die Welt und damit sich selbst auch ein Stück weit mit den Augen des Anderen zu sehen. Wir verlassen für eine Weile die eigene Perspektive und versuchen, die Welt aus der Perspektive des Anderen wahrzunehmen. Sobald beide Welten gleichberechtigt und in gegenseitigem Verständnis nebeneinander Platz finden, tritt häufig schon Entspannung ein, ohne dass sich an den Fakten etwas geändert hätte.
    Präsenz, Offenheit und Akzeptanz führen zu einer Art des Zuhörens, die Michael Ende (1988, S. 17) so schildert:
     
»Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. … Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.«
     
    In dieser aktiv engagierten Qualität des Zuhörens ist auch eine verfeinerte Fähigkeit zur Wahrnehmung des Anderen verborgen. Diese wird speziell mit der Konzentrations-Komponente der Achtsamkeit geschult. In Beziehungen gibt eine differenzierte Wahrnehmung der Gefühle des Anderen wertvolle Hinweise auf dessen Bedürfnisse. Paul Ekman, ein international führender Forscher im Bereich des nonverbalen Verhaltens, hat sich intensiv mit dem Ausdruck von Emotionen in der menschlichen Mimik beschäftigt. Auf Videoaufnahmen konnte er ultrakurze, flüchtige Veränderungen in der Mimik nachweisen. Diese laufen unbewusst und daher unzensiert ab. Doch das bewusste Erkennen dieser »Mikroexpressionen« ermöglicht eine bessere Einfühlung in andere Menschen und damit ein besseres Verständnis.
    Auch dieser Aspekt wurde in einem Versuch mit Matthieu Ricard untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass das Erkennen dieser superschnellen mimischen Signale von Emotionen dem Mönch und einer anderen in Meditation erfahrenen Person deutlich besser gelang, als allen anderen 5000 getesteten Personen. Sie übertrafen Polizisten, Anwälte, Psychiater, Zollbeamte und Richter, und sogar Secret-Service-Agenten, jene Gruppe die sich zuvor als die genaueste erwiesen hatte (Goleman, 2003, S. 43).
     
    Achtsamkeit mit Kindern und Jugendlichen
     
    Achtsamkeit mit Kindern und Jugendlichen beinhaltet zwei Aspekte: Ihre Schulung im »Fach« Achtsamkeit und die Schulung der Achtsamkeit der Eltern und Pädagogen, um ihnen ihre erzieherischen Aufgaben zu erleichtern.
    Die Achtsamkeitsforscher Myla und Jon Kabat-Zinn sind Eltern von drei Kindern. Sie haben zur Praxis der Achtsamkeit in der Familie gemeinsam ein Buch geschrieben, dessen Titel zugleich Programm ist: »Mit Kindern wachsen« (1998). Der englische Originaltitel »Everyday Blessings: The Inner Work of Mindful Parenting« setzt leicht andere Akzente: »Alltägliche Segnungen: die innere