Das alte Haus am Meer
fehlt nichts.«
Rafe wandte sich an Miss Cole.
»Rufen Sie doch bitte im Schloss an. Sagen Sie, man soll Evans mit dem Wagen schicken. Und sie sollen sich beeilen. Mrs Jerningham muss nach Hause.«
»Wie kann das nur passiert sein?«, fragte Cissie Cole. Sie starrte ihrer Tante nach und blickte dann wieder Lisle an.
»Eine von diesen aufreizenden jungen Damen, die einen nie ansehen, vor Angst, man könne sich etwas herausnehmen«, dachte Rafe wieder einmal abschätzig. Er mochte Cissie nicht – eine große, dünne, strohfarbene Kreatur, wie eine Karikatur von Lisle, und auch noch unordentlich. Sie schob sich eine blasse Haarsträhne hinter das Ohr und sagte mit flacher, kummervoller Stimme: »Wie kann’s nur passiert sein?«
Rafe Jerningham stellte ein paar Stunden später dieselbe Frage, wenn auch mit anderen Worten. Lisle hatte sich nicht hinlegen wollen, wollte keinen Arzt und kein Aufsehen. Ihr Kleid war zerrissen und voller Flecken. Sie zog sich um, kam dann herunter und setzte sich in einen bequemen Sessel auf dem Rasen mit Ausblick auf Tane Head und das Meer. Sie trank dort ihren Tee allein. Es war sehr friedlich und geruhsam, allein zu sein. So hätte sie es in Worten ausgedrückt, der Gedanke dahinter aber war: »Es ist so friedlich ohne Alicia.«
Kurz darauf kam Rafe, setzte sich auf einen Hocker zu ihren Füßen und fragte:
»Wie um alles in der Welt ist das passiert?«
»Ich weiß nicht. Irgendetwas ging kaputt, als ich um die Kurve fuhr.«
»Wie meinst du das?«
»Die Lenkung«, sagte Lisle. Ihre Augen wurden groß.
»Sie ging einfach kaputt.«
»Ist dir vorher etwas aufgefallen?«
»Mir nicht, aber Dale.«
Rasch blickte er weg, hinaus auf das Meer.
»Ach, Dale ist etwas aufgefallen? Was denn?«
Lisle hielt den Atem an.
»Er wird wütend sein, weil er es bemerkt hat. Er hat gesagt, mit der Lenkung stimme etwas nicht …«
Heftig unterbrach er sie.
»Wer ist gefahren, du oder Dale?«
»Oh, Dale. Er hasst es, wenn ein anderer fährt. Und er hat gesagt, ich solle den Wagen zu Langhams bringen, damit sie sich die Lenkung ansehen.«
Genauso rasch wie er weggeblickt hatte, sah er sie jetzt an.
»Das hat Dale gesagt, und du hast es nicht getan? Warum nicht?«
Sie errötete ein wenig.
»Ich wollte nicht.«
»Warum?«
»Alicia war dabei. Sie musste ihren Wagen bei Langhams abholen. Sie hat versucht, einen Streit mit mir anzufangen. Ich wollte keinen Streit, deshalb habe ich nicht gewartet.«
Seit er sich ihr zugewandt hatte, ruhten seine Augen auf ihrem Gesicht – helle, beobachtende Augen.
»Du riskierst lieber einen Unfall als einen Streit, richtig?«
»Ich dachte doch nicht, dass ein Unfall passieren würde. Zuerst sagte Dale übrigens, ›Lass Evans mal nachsehen‹. Erst als er ausstieg, sagte er im Gehen, ich solle zu Langhams fahren. Und als ich dann nicht warten wollte, dachte ich, Evans kann es sich ja auch zu Hause ansehen.« Ein kleines, kurzes Lachen. »Ich habe es einfach nicht so ernst genommen.«
Rafe winkelte die Arme um seine Knie. Er trug Flanellhosen und hatte einen Pullover umgehängt. Seine Haut hob sich sehr braun von der weißen Wolle ab. Die Haare an den Schläfen waren zerzaust.
»Warum hast du dich mit Alicia gestritten?«
»Habe ich ja gar nicht. Rafe, warum hasst sie mich so?«
»Weißt du das nicht?« Er erhob seine Stimme und begann, wohlklingend zu singen:
»Sie könnte dich nicht hassen, gar so sehr, liebte sie nicht einen anderen mehr.«
Sie errötete zutiefst.
»Hör auf, das ist schrecklich!«
Er lachte.
»Es ist kein großes Geheimnis, Kleines. Und falls du es noch nicht gemerkt hast: Alicia hasst dich aus dem ältesten Grund der Welt – sie ist eifersüchtig. Und wenn du noch einmal ›Hör auf‹ sagst, dann erzähle ich dir auch warum.«
Lisle antwortete nicht, sie blickte nur unglücklich drein. Und doch begegnete sie seinen spöttischen Augen mit einer gewissen kindlichen Direktheit. Rafe machte sich über sie lustig; er nahm nichts ernst. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, konnte man ihm alles erzählen, was man wollte. Alles blieb fein sicher auf der glänzenden Oberfläche, wo die Wellen fröhlich plätscherten, wo es keine Felsen, keinen Treibsand gab. Sie fragte:
»Findest du, dass ich eine Art Milch-und-Wasser-Person bin?«
Er lachte.
»Hat Alicia das gesagt?«
Lisle nickte.
»Sie sagte, ich hätte Milch und Wasser in den Adern.« »Typisch. Du hättest sagen sollen, ›besser als Essig‹.« »Aber stimmt es, Rafe? Findest du, dass ich so bin?« Er
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