Das alte Haus am Meer
machte ein sehr seltsames Gesicht.
»Milch und Wasser? Nein, das würde ich nicht sagen, eher Milch und Honig.«
Lisle musste lachen.
»O Rafe, das klingt richtig schmierig.«
Er drückte die Knie an sich. Zumindest hatte er sie zum Lachen gebracht. Sie hatte wieder Farbe und sie sah auch wieder Nähergelegenes als den Horizont. Er fand, das war ihm in der kurzen Zeit ganz gut gelungen.
Und dann war sie plötzlich wieder ernst. Es war ihr eigener Ausdruck, der ihr Lachen ersterben ließ. Schmierig, ein schmieriger Typ, nahm ein schmieriges Ende, das hatte Dale erst gestern über einen Mann gesagt, der bei einem Unfall um’s Leben gekommen war. So wie sie beinahe auch, wenn sie mit dem Wagen gegen Coopers Scheune geprallt wäre. Seltsamer Gedanke, sie wäre jetzt, statt mit Rafe hier in der Sonne zu sitzen, ja, wo nur? Sie wusste es nicht. Niemand wusste es, außer Gott. Und wenn er es wusste, war alles in Ordnung.
Rafe sagte schnell:
»Woran denkst du?«
»Wenn ich nicht gesprungen wäre …«
Er sah sie unverwandt an.
»Warum bist du gesprungen?«
»Ich dachte, das ist meine einzige Chance.«
Er nickte.
»War es auch. Aber hast du das gedacht oder bist du einfach in wilder Panik gesprungen, ohne zu denken?« Ihre Augen verdüsterten sich.
»Ich dachte an vieles …«
»Erzähl’s mir.«
Seine Stimme war so drängend, dass sie erschrak. Überrascht blickte sie auf. Aber weil es Rafe, und weil es eine Erleichterung war zu reden, antwortete sie ihm.
»Es ist sehr komisch, wie viel einem auf einmal durch den Kopf geht, wenn so etwas passiert. Ich dachte, wie wütend Dale sein würde, weil ich die Lenkung nicht habe überprüfen lassen, und ich dachte, wie Alicia sich freuen würde, weil sie mich hasst, und ich war froh, dass ich mein Testament gemacht habe, weil Dale nun Tanfield behalten konnte. Und dann sah ich die weiß gestrichene Seitenwand von Coopers Scheune und dachte: ›Wenn ich jetzt nicht springe, bin ich in einer Minute tot‹. Also hab ich die feuchte Stelle abgepasst, wo der Graben ist, weil dort der weichste Untergrund ist, und dann hab ich die Tür aufgemacht und bin so weit gesprungen wie ich konnte.«
Er zog wieder eine Grimasse.
»Ziemlich schlau, was, Kleines? Wie machst du das bloß? Denkst du zu viel, um Angst zu haben? War es so?«
»O, ich hatte Angst«, sagte Lisle sachlich. »Ich wollte keine Schürfwunden im Gesicht.«
»Rette, o rette meinen Teint! Er ist es ja auch wert, gerettet zu werden, so viel steht fest. Der Kratzer auf deiner Backe ist nur oberflächlich, das gibt keine Narbe. Wann hast du dein Testament gemacht?«
Wie typisch für Rafe, von einem Thema zum nächsten zu springen, ohne auch nur den Tonfall zu ändern. Sie antwortete:
»Oh, ungefähr vor zwei Wochen, als Dale und ich in der Stadt waren. Ich hätte es schon eher tun müssen. Aber Rafe, das wusstest du doch, wir haben doch alle darüber geredet.«
Er nickte.
»Stimmt, ich hatte es vergessen. Ich leide unter Überarbeitung und seniler Demenz. Deshalb habe ich mir auch heute Nachmittag den Daumen gequetscht – das ist eines der typischen Symptome. Und das war schließlich ein Segen. Hätte ich mir nämlich nicht unachtsamerweise den Daumen in der Tür eingeklemmt, weil ich an etwas anderes dachte, dann hätte ich schöne, exakte Pläne von Flugzeugen gezeichnet – alles streng geheim natürlich – statt im Dorf darauf zu warten, mit dir nach Hause zu fahren, und ich wäre nicht zur Stelle gewesen, um dich aus deinem Graben zu fischen. Apropos Graben, ich hoffe, dein Kleid hat nicht gelitten?«
»Zerrissen«, sagte Lisle.
»Wie schade. Es war honigfarben, genau wie dein Haar. Was steht in deinem Testament, Schätzchen? Ist es eines dieser altmodischen Testamente ›alles geht an meinen Ehemann‹?«
»Selbstverständlich.«
Seine Augenbrauen hoben sich sarkastisch.
»Warum selbstverständlich? Hast du keine Verwandten?«
Lisle stöhnte gequält. Es war einer dieser Tage, an denen sie nicht daran erinnert werden wollte, wie allein sie war.
»Ich habe ein paar Cousins und Cousinen in den Staaten, aber die habe ich nie kennen gelernt. Sie hätten nach dem Testament meines Vaters das Geld geerbt, wenn ich kein Testament gemacht hätte.«
»Und Alicia hast du nichts vermacht? Das wundert mich aber. Das wäre doch eine wirklich nette Geste. Etwas in der Art wie: ›meiner angeheirateten Cousine Alicia vermache ich meine fünftbeste Perlenkette‹. Wie Shakespeare, der seiner Frau sein zweitbestes Bett vermachte. Ich glaube,
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