Das alte Königreich 02 - Lirael
Augen abzuwenden. Sie blickte die Hündin an. Wenngleich sie wusste, dass ihre Worte im Donnern des Flusses untergehen würden, sagte sie: »Ich werde da nicht hinübergehen!«
Die Hündin beachtete sie nicht, und Lirael wollte ihre Worte gerade wiederholen, als sie plötzlich etwas sehr Seltsames bemerkte: Die Pfoten der Hündin waren doppelt so groß und ganz flach geworden. Außerdem sah sie selbstzufrieden aus.
»Ich wette, du hast dir sogar Saugnäpfe wachsen lassen wie ein Krake«, rief Lirael.
»Natürlich!«, rief die Hündin zurück und hob eine Pfote, wobei ein schmatzendes Geräusch entstand, das sogar über das Tosen des Flusses hinweg zu hören war. »Die Brücke sieht sehr unsicher aus.«
»Und ob!« Lirael starrte wieder auf die andere Seite des Flusses. Offensichtlich hatte die Hündin vor, die Brücke zu überqueren; mit Hilfe der Saugnäpfe war es möglich, doch immer noch gefährlich. Seufzend bückte Lirael sich und zog ihre Schuhe aus. Immer wieder spritzte ihr Gischt in die Augen. Nachdem sie die Bänder ihrer weichen Lederhalbstiefel durch ihren Gürtel gezogen hatte, setzte sie die Zehen auf den Stein. Er war sehr kalt, doch sie spürte erleichtert, dass der Fels geriffelt und uneben war. Das würde ihr ein wenig Halt bieten.
»Ich frage mich, wozu die Brücke erbaut wurde und wen sie nicht hineinlassen sollte.«
Lirael schob die Finger unter das Halsband der Hündin und spürte dort das beruhigende Summen der Chartermagie. Sie hatten erst ein paar Schritte getan, als Lirael hinzufügte: »Oder wen die Brücke nicht ‘rauslassen sollte…«
22
MACHT DER DREI
Die Tür auf der anderen Seite der Brücke öffnete sich sofort, als Lirael sie berührte. Wieder spürte sie, wie Chartermagie sie durchströmte, doch war es keine freundliche Berührung wie von der oberen Tür, auch kein stilles Anerkennen wie das des Steinportals am Eingang zur Kluft. Diesmal war es wie eine wachsame Begutachtung.
Als die Tür aufschwang, zitterte die Hündin unter Liraels Hand. Sie fragte sich nach dem Grund, bis sie den unverkennbaren, zersetzenden Geruch von Freier Magie wahrnahm. Er kam von irgendwo weiter vorn und war auf eigenartig beherrschende Weise von Chartermagie durchdrungen.
»Freie Magie«, flüsterte Lirael zaudernd. Doch die Hündin drängte weiter und zog sie mit sich. Zögernd folgte Lirael ihr durch die Tür.
Kaum war sie über der Schwelle, als die Tür hinter ihr zuschlug. Sogleich war das Tosen des Flusses nicht mehr zu vernehmen, und auch der Charterlichtpfad war nicht mehr zu sehen. Es war dunkel, dunkler als jede Finsternis, die Lirael bisher erlebt hatte – eine Schwärze, die es plötzlich unmöglich machte, sich Licht auch nur vorzustellen. Lirael war so verängstigt, dass sie an ihren Sinnen zweifelte. Nur die Berührung des nassen Felles der Hündin hielt sie in der Wirklichkeit und ließ sie erkennen, dass sie nach wie vor aufrecht stand, dass der Raum sich nicht verändert und der Boden sich nicht geneigt hatte.
»Rühr dich nicht«, flüsterte die Hündin, und Lirael spürte, wie die Schnauze des Tieres flüchtig gegen ihr Bein drückte, als genügte die gesprochene Warnung nicht.
Der Geruch von Freier Magie wurde stärker. Lirael hielt sich mit einer Hand die Nase zu und bemühte sich, nicht einzuatmen, während ihre andere Hand nach der Aufziehmaus in ihrer Wamstasche langte. Natürlich wusste sie, wie unwahrscheinlich es war, dass dieses mechanische Gerät den Weg von hier in die Bibliothek finden würde.
Lirael spürte auch, wie sich Chartermagie in starken Zeichen aufbaute, die wie Pollen in der Luft schwebten, allerdings mit gedämpftem innerem Licht. Sie spürte, wie Chartermagie und Freie Magie sich zusammentaten, sich um ihren Körper wanden und drehten und einen Zauber wirkten, der ihr fremd war.
Liraels Magen verkrampfte sich vor Furcht. Sie zwang sich ruhig zu atmen und Ruhe zu bewahren, doch die Luft war schwer von seltsamer Magie. Dann begannen Lichter in der Luft zu glitzern – winzige zerbrechliche Lichtbällchen, die aus Hunderten hauchfeiner Fasern bestanden und wie leuchtende Pusteblumen aussahen. Sie trieben in einem Lufthauch, den Lirael nicht zu spüren vermochte. Mit den Lichtern ließ der Geruch von Freier Magie nach, während die Chartermagie stärker wurde. Vorsichtig holte Lirael Atem.
In dem eigenartig scheckigen, ständig wechselnden Licht vermochte sie nun ihre direkte Umgebung wahrzunehmen. Sie befand sich in einem großen
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