Das alte Königreich 02 - Lirael
Er rutschte weg und schlug mit dem Musikantenknochen gegen die Mauer.
»Autsch!«, rief er und hielt sich den schmerzenden Ellenbogen. »Verdammt!«
»Ist Euch etwas passiert, Herr?«, rief der Wachposten, der herbeieilte und mit seinen Nagelstiefeln einen viel besseren Halt hatte als Sam in seinen Pantoffeln aus Kaninchenfell. »Ihr wollt Euch doch kein Bein brechen…?«
Sam verzog das Gesicht. Er wusste, dass die Wachen sich über die Vorstellung, ihn als Vogel der Auferstehung tanzen zu sehen, köstlich amüsierten und kaum verhohlen über ihn kicherten, was nicht gerade zu seinem Selbstwertgefühl beitrug. Überdies waren die Proben als Vogel der Auferstehung beim Mittwinter- und Mittsommerfest nur eines von vielen Gebieten, in denen Ellimere sich ihm als überlegen erwies. Anders als seine Schwester konnte Sam keine Begeisterung für den Tanz vortäuschen, schlief bei den Gerichtssitzungen manchmal ein und hatte keinen Spaß an den Kampfübungen mit den Gardisten, wenngleich er ein sehr guter Fechter war.
Auch bei der »Perspektive« machte er sich nicht gut, während Ellimere sich auch hier mit großem Fleiß und Eifer hervortat. Sam dagegen war mit den Gedanken woanders. Er machte sich Sorgen um seine unsichere Zukunft und wusste manchmal nicht, was er tun sollte.
»Sir, ist alles in Ordnung?«, erkundigte der Posten sich erneut.
»Ja«, antwortete Sam einsilbig. »Ich bin bloß ausgerutscht und mit dem Ellenbogen angeschlagen.«
»Habt Ihr da draußen etwas Interessantes gesehen?«, fragte der Posten. Er hieß Brel, wie Sam sich erinnerte.
»Nein.« Sam schüttelte den Kopf und blickte wieder hinunter zum Stadtzentrum. Das Mittwinterfest würde in ein paar Tagen beginnen. Auf dem gefrorenen Loesaresee war bereits alles für den Frostjahrmarkt aufgebaut: Zelte und Wagen und Buden mit Narren und Jongleuren, Musikanten und Magiern. Es würde Vorführungen, Ausstellungen und alle Arten von Spielen geben, ganz zu schweigen von Köstlichkeiten aus allen Winkeln des Alten Königreichs und sogar von außerhalb. Der Loesaresee lag im Mitteltal von Belisaere und maß 35 000 Hektar, doch der Frostjahrmarkt nahm sämtlichen Platz in Anspruch, ja, er erstreckte sich sogar bis in die öffentlichen Anlagen am Seeufer.
Sam hatte den Frostjahrmarkt immer gemocht, doch jetzt interessierte ihn der Rummel überhaupt nicht. Im Augenblick empfand er bloß Kälte und tiefste Niedergeschlagenheit.
»Auf dem Jahrmarkt wird es wieder viel Spaß geben.« Brel klatschte in die Hände. »Sieht aus, als würde es in diesem Jahr ein schönes Fest.«
»Ach, wirklich?«, murmelte Sam düster. Er würde am Hauptfesttag den Vogel der Auferstehung tanzen müssen. Seine Aufgabe war es, den grünen Frühlingsreis am Ende des Winterzuges zu tragen – hinter Schnee, Matsch, Hagel, Nebel, Sturm und Frost. Sie alle waren Berufstänzer auf Stelzen; deshalb ragten sie nicht nur hoch über dem Vogel auf, sondern offenbarten auch deutlich Sams mangelndes Können.
Der Wintertanz war lang und kompliziert und wand sich zwei Meilen den gewundenen Jahrmarktweg entlang. Tatsächlich war er noch viel länger, denn es gab viel Hin und Her, während die Sechs Wintergeister um den Vogel hüpften und ihre Jahreszeit zu verlängern suchten, indem sie den Frühlingsreis unter Sams goldenem Flügel stahlen oder ihn mit ihren Stelzen zu Fall brachten.
Sie hatten bereits zwei Generalproben hinter sich. Bei der ersten war der Vogel dreimal gestürzt, hatte sich zweimal den Schnabel verbogen und sich das Federkleid völlig zerzaust. Bei der zweiten Probe war es sogar noch schlimmer gewesen: Der Vogel war gegen die Tänzerin geprallt, die das Schneegestöber darstellte, und hatte sie mitsamt ihren Stelzen umgeworfen. Das neue Schneegestöbermädchen würdigte Sam keines Blickes.
»Man sagt, Pech bei der Generalprobe bedeutet gutes Gelingen bei der Aufführung«, versuchte Brel den Prinzen zu beruhigen.
Sam nickte nur und beobachtete weiter. Kein Papiersegler glitt gegen den Wind herbei, kein Reitertrupp mit dem königlichen Banner näherte sich aus dem Süden. Es war Zeitverschwendung, nach seinen Eltern Ausschau zu halten.
Brel hüstelte in seinen Handschuh. Sam blickte über die Schulter, als der Wachposten den Kopf neigte und seinen gemessenen Marsch über den Wehrgang fortsetzte. Seine Trompete schlug an ihrem Riemen sanft gegen seinen Rücken.
Sam stieg die Treppe hinunter. Er würde zu spät zur nächsten Probe kommen.
Brel war im Irrtum
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