Das alte Königreich 02 - Lirael
gewesen, als er gemeint hatte, dass Pech bei den Proben gutes Gelingen bei der Aufführung bedeutete. Sam stolperte und schwankte jämmerlich, und nur die Erfahrung und Energie der Sechs Wintergeister verhinderten, dass der Tanz zur völligen Katastrophe geriet.
Es war Tradition, dass alle Tänzer nach Beendigung des Festes mit der königlichen Familie im Schloss speisten, doch Sam hielt sich fern. Er hatte genug mit ihnen zu tun gehabt und konnte reichlich blaue Flecken und Ärgeres dafür vorweisen. Er war sogar sicher, dass das Schneegestöbermädchen ihm gegen Ende des Zuges mit voller Absicht die Stelze übergezogen hatte. Sie war die Schwester des Mädchens, das Sam bei der Probe umgeworfen hatte.
Statt am Dinner teilzunehmen, zog er sich in seine Werkstatt zurück und versuchte, seinen Kummer bei der Konstruktion eines besonders schwierigen und interessanten magisch-mechanischen Spielzeugs zu vergessen. Ellimere sandte einen Pagen, um ihn zu holen, doch Sam ließ sich nicht beirren. So ließ sie ihn in Ruhe, zumindest diese Nacht.
Nicht jedoch am nächsten Tag und in den Tagen darauf. Ellimere konnte oder wollte nicht einsehen, dass Sams Bedrücktheit von echten Schwierigkeiten herrührte. Statt ihn zu trösten, legte sie ihm weitere Pflichten auf. Und was noch schlimmer war: Sie setzte die jüngeren Schwestern ihrer Freundinnen auf ihn an, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass irgendeines dieser neugierigen weiblichen Wesen herausfand, was mit ihm los war. Kein Wunder also, dass Sam Abneigung gegenüber jeder jungen Dame empfand, die Ellimere beim Dinner neben ihn setzte oder die »rein zufällig« mit dem gebrochenen Verschluss eines Armbands zu ihm in die Werkstatt kam und ihn bat, es zu reparieren. Sams ständige Sorge wegen des Buches und der Rückkehr seiner Mutter ließ ihm wenig Zeit für Freundschaften, geschweige denn für Liebesdinge. So erwarb er sich nicht nur unter den jungen Frauen, die Ellimere ihm vorstellte, sondern bei allen Jungen und Mädchen seines Alters im Schloss den Ruf, steif und abweisend zu sein. Selbst seine alten Freunde aus den vergangenen Jahren, wenn Sam in den Ferien zu Hause gewesen war, fanden keine Freude mehr an seiner Gesellschaft. Doch Sam, den seine privaten Schwierigkeiten und die offiziellen Pflichten sehr beschäftigten, bemerkte kaum, dass Gleichaltrige ihm aus dem Weg gingen. Nur mit Brel unterhielt er sich gelegentlich ein wenig, denn der Wachposten war nicht sehr gesprächig, und ihn schien Sams Wortkargheit ebenso wenig zu stören wie seine Angewohnheit, mitten im Satz innezuhalten und über die Stadt und das Meer zu blicken.
»Heute ist Euer Geburtstag«, sagte Brel an einem klaren und kalten Morgen. Der Mond stand noch am Himmel; er hatte einen Lichtring wie sonst nur in den frostigsten Winternächten.
Sam nickte. Da er nur zwei Wochen nach dem Mittwinterfest Geburtstag hatte, wollte sich wegen der vorangegangenen Festlichkeiten niemand zu einer weiteren großen Feier aufraffen. In diesem Jahr wurde Sams Geburtstag auf Grund der Abwesenheit Sabriels und Touchstones noch weniger beachtet. Die beiden sandten ihm Glückwünsche und Geschenke, die zwar offensichtlich mit Überlegung ausgewählt waren, Sam aber trotzdem nicht erfreuten, zumal eines der Geschenke ein Wams mit den Silberschlüsseln der Abhorsen auf blauem Grund und dem goldenen Schloss des Königsgeschlechts auf rotem Feld war; ein anderes Geschenk war ein Buch mit dem Titel
Ratschläge für das Binden von Elementargeistern Freier Magie.
»Habt Ihr schöne Geschenke bekommen?«, fragte Brel.
»Ein Wams«, antwortete Sam. »Und ein Buch.«
»Ah«, murmelte Brel und rieb sich die Hände, um sie warm zu halten. »Kein Schwert? Keinen Hund?«
Sam schüttelte den Kopf. Er wollte kein Schwert, auch keinen Hund, doch beides wäre ihm lieber gewesen als die Geschenke, die er bekommen hatte.
»Prinzessin Ellimere hat bestimmt etwas Schönes für Euch«, meinte Brel nach längerem Nachdenken.
»Das bezweifle ich«, entgegnete Sam. »Wahrscheinlich lässt sie sich irgendeinen Unterricht für mich einfallen.«
Brel ließ den Blick von Süden nach Norden über den Horizont schweifen. »Alles Gute zum Geburtstag«, gratulierte er dann. »Wie alt seid Ihr geworden? Achtzehn?«
»Siebzehn«, antwortete Sam.
»Ah«, murmelte Brel und ging zur anderen Seite des Turmes, um dort von Horizont zu Horizont zu blicken.
Sam stieg die Treppe hinunter.
Ellimere hatte tatsächlich eine Geburtstagsfeier in der
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