Das alte Königreich 03 - Abhorsen
Pfad und keine Treppe – der Zauber Freier Magie verhinderte nur, dass man vom Wasseraufstieg zu weit mitgerissen wurde.
»Du musst mein Halsband festhalten, Gebieterin«, sagte die Hündin mit einem Blick auf das emporsteigende Wasser. »Sonst bleibe ich außerhalb des Zaubers zurück.«
Lirael steckte ihr Schwert zurück und ergriff das Halsband der Hündin. Ihre Finger spürten die Wärme und die beruhigende Vertrautheit der Charterzeichen, aus denen es bestand. Als sie die Finger durchschob, hatte sie das seltsame Gefühl eines Déjà-vu, als wären die Charterzeichen ihr von anderswo bekannt, nicht nur vom Halsband, das sie Tausende Male in die Hand genommen hatte. Aber sie hatte keine Zeit, diesem Gefühl nachzugehen.
Sie hielt die Hündin fest und sprach die Worte, die sie den Wasseraufstieg emportragen würden, und spürte wieder die Glut Freier Magie in Nase und Mund. Wahrscheinlich, dachte sie, würde sie auf diese Weise früher oder später ihre Stimme verlieren. Andererseits schien es ihren ancelstierrischen Schnupfen geheilt zu haben. Oder der Schnupfen war in ihrem wirklichen Körper draußen im Leben geblieben. Sie wusste nicht viel darüber, wie sich solche Dinge im Tod auf ihr Leben auswirkten. Sollte sie allerdings das Totenreich nicht mehr verlassen können, würde auch ihr lebender Körper sterben.
Der Zauber zeigte nicht sofort Wirkung, und für einen Moment erwog Lirael, die Beschwörung noch einmal zu sprechen. Dann sah sie, wie ein Wasserschleier sich aus dem Wasseraufstieg löste und sich wie ein dünner Tentakel bewegte. Er überbrückte die Lücke zum dunklen Pfad, wobei er schubweise wuchs, und umhüllte Lirael und die Hündin wie eine große Decke, ohne sie wirklich zu berühren. Dann schwebte er den Wasseraufstieg mit genau der Geschwindigkeit der vertikalen Strömung empor und nahm Lirael und die Hündin, die sie fest am Halsband hielt, mit sich.
Mehrere Minuten lang bewegten sie sich gleichmäßig empor, bis die Zone sich im Grau der Tiefe verlor. Der Wasseraufstieg ging weiter, vielleicht bis in alle Ewigkeit, doch der Wasserschleier, der Lirael umgab, hielt an. Dann schnellte der Schleier zurück in den Wasseraufstieg und warf seine Passagiere auf der anderen Seite hinaus.
Lirael blinzelte, als sie scheinbar auf den Felsen zuflog, doch die Rückseite des Wasseraufstiegs war ebenso wenig logischen Gesetzmäßigkeiten Untertan wie die Vorderseite, und irgendwie hatte der Schleier sie durch die vertikale Strömung hindurch in die nächste Zone geschleudert, die Sechste, in welcher der Fluss ein flacher Tümpel wurde, in dem es keine Strömung mehr gab. Dafür gab es umso mehr Tote.
Lirael spürte sie so stark, als stünden sie unmittelbar neben ihr – und einige waren vermutlich auch so nah, wenngleich unter Wasser. Augenblicklich ließ sie das Halsband der Hündin los und zog Nehima. Das Schwert summte, als es aus der Hülle fuhr.
Das Schwert und die Glocke in ihrer Hand schreckten die meisten Toten ab. Die meisten warteten hier ohnehin nur, bis etwas geschah, das sie zwang weiterzuziehen, denn sie hatten nicht mehr den Willen noch das Wissen, umzukehren und zurückzugehen. Nur wenige unternahmen den mühevollen Weg zurück ins Leben.
Doch jene, die es taten, bemerkten den hellen Funken Leben in Lirael und gierten danach. In der Vergangenheit hatten andere Nekromanten ihren Hunger gestillt und sie von der Schwelle des Neunten Tores zurückgebracht, ob wissentlich oder nicht. Diese Nekromantin war jung und sollte ein leichtes Opfer für jeden Größeren Toten sein, der in der Nähe war.
Drei von ihnen
waren
in der Nähe.
Lirael sah die mächtigen Schatten zwischen den apathischen kleineren Geistern. Dort, wo sie als lebende Gestalten einst Augen gehabt hatten, loderten Flammen. Drei dieser Schattenwesen waren nah genug, um sich Lirael in den Weg zu stellen – und das waren drei zu viel.
Doch erneut wusste das
Buch der Toten
Rat für den Fall einer solchen Konfrontation in der Sechsten Zone. Außerdem hatte Lireal wie immer die Fragwürdige Hündin an ihrer Seite.
Als die drei ungeheuerlichen Größeren Toten auf sie zukamen, steckte sie Ranna zurück und zog Saraneth heraus. Sie konzentrierte sich diesmal vollkommen darauf; dann läutete sie die Glocke und zwang dem tiefen Klang ihren unbeugsamen Willen auf.
Die toten Wesen zögerten, als Saraneths kräftige Stimme in die Zone hinausschallte. Sie bereiteten sich auf den Kampf mit dieser anmaßenden Nekromantin vor, die
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