Das alte Königreich 03 - Abhorsen
schließlich schwächer, vor allem die Windbeschwörung, so dass der Regen nachließ, ihnen nicht mehr waagrecht ins Gesicht peitschte und sie nicht länger mit Blättern und Zweigen und anderem bombardiert wurden, das der Sturmwind mit sich trug.
Lirael musste sich alle paar Stunden daran erinnern, dass diese Strapazen etwas Gutes hatten: Keine Blutkrähe vermochte sie in diesem Regen zu finden. Aber auch dieser Gedanke hob ihre Stimmung nicht.
Wenigstens war es nicht kalt. Anderenfalls wären sie sicherlich erfroren oder hätten ihre gesamten Kräfte aufwenden müssen, um sich mit Chartermagie am Leben zu erhalten. Wind und Regen waren warm, und wenn das Unwetter nur die eine oder andere Stunde ausgesetzt hätte, hätte Lirael ihren Wetterzauber als großen Erfolg gepriesen. So aber ließ die öde Trostlosigkeit keinen Stolz aufkommen.
Sie näherten sich langsam dem Roten See und suchten sich einen Weg über die dicht bewaldeten Vorberge des Abed. Die Bäume bildeten ein Dach über ihnen, und am Wegrand wuchsen Farne und Pflanzen, die Lirael nur aus Büchern kannte. Ein dicker Laubteppich bedeckte den schlammigen Boden. Durch den Regen wanden sich Tausende kleiner Rinnsale und Bäche zwischen den Bäumen dahin und bildeten winzige Wasserfälle zwischen den Baumwurzeln und über Felsen. Oft wateten sie knöcheltief durchs Wasser, meist aber kämpften sie sich durch kniehohes schlammiges Laub.
Es war kräftezehrend, und Lirael fühlte sich erschöpfter, als sie je für möglich gehalten hatte. Wenn sie rasten wollten, mussten sie einen besonders dicht belaubten Baum finden, um aus dem Regen zu kommen, und auch die höchsten Wurzeln, um nicht im Schlamm zu sitzen. Lirael fand heraus, dass sie sogar unter diesen Bedingungen schlafen konnte, obwohl es öfter vorkam, dass sie nach den zwei kurzen Stunden, die sie sich Ruhe gönnten, im Schlamm liegend erwachte.
Natürlich wurde der Schlamm rasch abgewaschen, sobald sie wieder in den Regen kamen. Lirael wusste nicht zu sagen, was schlimmer war: Schlamm, Regen oder der Übergang in den ersten zehn Minuten, wenn sie aus ihrem Unterschlupf losmarschierten, der Schlamm abgewaschen wurde und ihnen über Gesichter, Hände und Beine lief.
Und in solch einem Augenblick, als sie gerade eine Rinne hinaufkletterten und ganz damit beschäftigt waren, den Schlamm aus den Augen zu bekommen, fanden sie, an einen schützenden Baum gelehnt, eine sterbende Königliche Gardistin. Die Fragwürdige Hündin war es, die ihre Witterung aufnahm und vorauslief.
Die Frau war bewusstlos. Ihr roter und goldener Wappenrock wies dunkle Flecken von Blut auf, und ihr Panzerhemd war an mehreren Stellen aufgerissen. Sie hielt ein schartiges Schwert in der Rechten, während die Linke in einer Zauber wirkenden Bewegung erstarrt war, die sie nun nie mehr zu Ende führen würde.
Lirael und Sam wussten, dass das Leben der Kriegerin fast zu Ende war und ihr Geist bereits ins Totenreich hinüberglitt. Rasch beugte Sam sich hinab und beschwor den wirkungsvollsten Heilzauber, den er kannte. Aber noch bevor das erste Charterzeichen in seinen Gedanken Gestalt annahm, war die Frau tot. Der schwache Schimmer des Lebens schwand aus ihrem Antlitz. Sam brach den Heilzauber ab und schloss der Toten sanft die Augen.
»Eine aus Vaters Garde«, sagte er schwer. »Ich kenne sie allerdings nicht. Vermutlich gehört sie zum Gardestützpunkt in Roble. Was sie wohl hierher geführt hat…?«
Lirael konnte den Blick nicht von der Toten nehmen. Sie fühlte sich schrecklich nutzlos. Immer kam sie zu spät, immer war sie zu langsam! Zuerst der Südling im Fluss, nach dem Kampf mit Chlorr. Dann Barra und die Kaufleute. Und jetzt diese Frau. Es war grausam, dass sie hier allein hatte sterben müssen, wo nur ein paar Minuten zwischen Tod und Rettung lagen. Wenn sie den Hang nur ein wenig rascher erklommen oder die letzte Rast ausgelassen hätten…
»Sie war schon seit ein paar Tagen dem Tod nah«, sagte die Fragwürdige Hündin schnüffelnd. »Aber sie kann nicht weit gekommen sein, Gebieterin. Nicht mit diesen Wunden.«
»Dann müssen wir Hedge und Nick ziemlich nahe sein«, meinte Sam und richtete sich wachsam auf. »Es ist schwer, sich unter all den Bäumen zu orientieren. Wir könnten den Bergkamm fast erreicht haben, aber ebenso gut noch Meilen vor uns haben.«
Lirael blickte noch immer auf den Leichnam der Gardistin. Langsam sagte sie: »Ich muss herausfinden, was sie umgebracht hat und wo der Feind ist.«
»Dann
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