Das alte Königreich 03 - Abhorsen
Ich bitte Euch, mir Schutz zu gewähren, so dass niemand mich zurückholen kann.«
»Das werde ich tun«, erwiderte Lirael, wenngleich Mareyns Worte sie das Schlimmste befürchten ließen. Falls Hedge Mareyn gehen ließ, waren ihr seine Schergen gefolgt und er wusste, wo ihr Körper sich befand. Vielleicht beobachteten sie ihn jetzt, in diesem Augenblick, und hatten bereits auch einen Späher ins Totenreich gesandt, der ihr auflauerte. Hedge und seine Schergen mochten im Leben wie im Tod bereits im Anmarsch sein.
Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als die Hündin die Ohren spitzte und knurrte. Gleich darauf verstummte das Donnern des Ersten Tores.
»Da kommt etwas«, warnte die Hündin mit zuckenden Nasenflügeln. »Etwas Scheußliches.«
Lirael steckte Saraneth zurück und zog Kibeth heraus. Sie nahm die Glocke in die Linke, so dass sie auch ihr Schwert ziehen konnte. »Rasch, Mareyn, sag mir, wo die Grube ist, von deinem Körper aus gesehen.«
»Die Grube befindet sich jenseits des Berges im nächsten Tal«, erwiderte Mareyn ruhig. »Dort sind viele Tote unter dichten Wolken und ständigen Blitzen. Sie haben am Talgrund entlang bis zum See eine Straße gebaut. Der junge Mann, Nicholas, hält sich in einem Zelt östlich der Grube auf… Etwas kommt auf mich zu, Gebieterin. Ich bitte Euch um Schutz auf dem Weg.«
Lirael spürte die Furcht in Mareyns Geist, obgleich die Stimme den ausdruckslosen Klang der Toten besaß. Sie handelte sofort und läutete Kibeth über ihrem Kopf in einer Achterschleife.
»Geh, Mareyn«, sagte sie befehlend, und ihre Worte wurden eins mit dem Glockengeläut. »Wandere tief ins Totenreich, verweile aber nirgends und lass dich von niemandem aufhalten. Ich befehle dir, durch das Neunte Tor zu gehen, denn du hast deine letzte Ruhe verdient. Geh!«
Mareyn drehte sich beim letzten Wort um und marschierte los, mit erhobenem Kopf und schwingenden Armen, wie sie wohl einst im Leben auf dem Paradeplatz in der Kaserne von Belisaere marschiert war. Schnurgerade marschierte sie auf das Erste Tor zu. Lirael sah sie einen Moment schwanken, als hätte irgendetwas sie aufzuhalten versucht, doch gleich darauf marschierte sie weiter, bis das Donnern des Tores verstummte, als sie es durchschritt.
»Sie ist drüben«, bemerkte die Hündin. »Aber was immer durch das Tor kam, es ist hier noch irgendwo. Ich kann es riechen.«
»Auch ich spüre es«, flüsterte Lirael. Sie tauschte wieder die Glocken und hielt Saraneth bereit. Sie schätzte die Sicherheit durch die große Glocke und die tiefe Kraft ihres Klanges.
»Lass uns zurückgehen«, sagte die Hündin, während sie den Kopf hin und her bewegte, um das Wesen aufzuspüren. »Es ist schlau. Das gefällt mir nicht.«
»Weißt du, was es ist?«, flüsterte Lirael, als sie zurück ins Leben zu stapfen begannen. Sie ging im Zickzack, so dass ihr Rücken niemals ganz dem Wesen zugewandt war. Es kostete mehr Kraft, gegen die Strömung zu gehen, und die eisige Kälte zehrte an ihr.
»Eine Kreatur von jenseits des Fünften Tores, glaube ich«, sagte die Hündin. »Klein und nur noch ein Abklatsch ihrer einstigen… da!«
Sie bellte und eilte durchs Wasser. Lirael sah irgendetwas zur Seite springen, als die Hündin zuschnappte. Es sah wie eine lange, spindeldürre Ratte mit feurigen Augen aus. Das Wesen kam direkt auf sie zu, und sie spürte den kalten, mächtigen Geist, der dieser grässlichen Kreatur innewohnte.
Sie schrie und hieb mit dem Schwert danach. Bläuliche Funken stoben empor. Doch das Wesen war zu schnell. Der Hieb glitt ab, und die Kreatur schnappte nach Liraels linkem Handgelenk, das die Glocke hielt. Die Kiefer des Wesens schlossen sich um ihren gepanzerten Ärmel. Schwarzrote Flammen zuckten zwischen den spitzen Zähnen des Monsters hervor.
Dann schloss sich das Gebiss der Hündin um den Rattenkörper und riss ihn von Liraels Arm. Das Furcht einflößende Knurren der Hündin vermischte sich mit dem Quieken der Kreatur und Liraels Schrei. Im nächsten Augenblick ertranken sie alle im tiefen Klang Saraneths, als Lirael zurücktrat und in einer einzigen fließenden Bewegung die Glocke wirbelte, sie am Griff fing und schwang.
8
Sameths Mutprobe
Sam ging erneut seine kleine Runde, um sicher zu sein, dass nichts und niemand sich unbemerkt nähern konnte. Viel konnte er durch den Regen und das Laubwerk jedoch nicht sehen, geschweige denn einen Angreifer hören, bevor dieser so nahe war, dass kein anderer Ausweg mehr
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