Das alte Königreich 03 - Abhorsen
konnten gefährlich sein, und auch wer im Leben ein Freund gewesen war, mochte im Tod solche Bande bereits vergessen haben. Es war sicherer, sie nicht anzufassen. Lirael schob ihr Schwert in die Hülle zurück, und während sie Saraneth mit der linken Hand am Läuten hinderte, griff sie mit der rechten nach dem Mahagonigriff. Lirael wusste, sie hätte sie einhändig wirbeln und gleichzeitig schwingen sollen, zumal sie das konnte, wenn es erforderlich wäre, doch es erschien ihr vernünftiger, größere Vorsicht walten zu lassen. Schließlich hatte sie nie zuvor die Macht der Glocken eingesetzt. Nur die Flöten, und diese waren von geringerer magischer Kraft.
»Viele werden Saraneth hören, in weitem Umkreis«, flüsterte die Hündin. »Warum schnappe ich mir die Tote nicht einfach am Fuß?«
»Nein.« Lirael runzelte die Stirn. »Sie ist eine Königliche Gardistin, auch noch im Tod, und wir werden ihr den gebotenen Respekt entgegenbringen. Ich will sie nur rufen. Wir werden nicht lange hier bleiben.«
Sie läutete die Glocke mit einer bogenförmigen Bewegung. Es war eine der einfachsten Methoden des Läutens, die das
Buch der Toten
für Saraneth nannte. Zugleich legte sie ihren Willen in den Klang der Glocke und richtete ihn auf den untergetauchten Körper, der vor ihr trieb.
Die Glocke war lauter als das ferne Donnern des Ersten Tores. Der Klang hallte von überall wider und schien immer kräftiger zu werden. Der tiefe Ton kräuselte das Wasser in weitem Kreis um Lirael und die Hündin, selbst gegen die Strömung.
Dann hüllte der Klang den Geist der Gardistin ein. Lirael konnte spüren, wie sie sich wehrte und wand wie ein Fisch an der Angel. Durch das Echo des Läutens hörte sie einen Namen und wusste, dass Saraneth ihn herausgefunden hatte und ihr mitteilte. Manchmal war es erforderlich, einen Namen mit Hilfe eines Charterzaubers zu finden, doch diese Gardistin besaß keinen Schutz vor der Macht der Glocken.
»Mareyn«, sagte ein Echo Saraneths, das nur in Liraels Kopf erklang. Der Name der Gardistin lautete Mareyn.
»Halt an, Mareyn!«, befahl sie. »Steh auf, ich will mit dir sprechen.«
Lirael spürte den Widerstand der Kriegerin, doch er war schwach. Gleich darauf schäumte der kalte Fluss, und die Geistgestalt Mareyns erhob sich aus den Fluten und wandte sich der Glockenschwingerin zu, in deren Bann sie stand.
Die Kriegerin war noch nicht lange genug tot, dass der Tod sie verändert hätte. Ihr Geist besaß dieselbe Gestalt, die ihr Körper im Leben gehabt hatte. Sie war eine große, kräftige Frau, und Lirael konnte die durchbohrte Rüstung und die tiefen Wunden im fahlen Licht des Todes ebenso deutlich sehen wie vorhin im Sonnenlicht, als sie die Sterbende gefunden hatten.
»Sprich, wenn du es vermagst«, befahl Lirael. Da Mareyn eben erst aus dem Leben geschieden war, konnte sie wahrscheinlich noch reden, wenn sie wollte. Viele, die lange im Totenreich waren, verloren das Vermögen zu sprechen, und nur Dyrim, die Schweigengebietende, konnte ihnen diese Fähigkeit zurückgeben.
»Ich kann… sprechen«, krächzte Mareyn. »Was wollt Ihr von mir, Gebieterin?«
»Ich bin die Abhorsen-Nachfolgerin«, sagte Lirael. Ihre Worte schallten hinaus ins Totenreich und übertönten eine andere, leisere Stimme in ihrem Innern, die sagen wollte: »Ich bin eine Tochter der Clayr.«
»Sag mir, wie du den Tod gefunden hast, und was du von einem Mann mit Namen Nicholas und seiner Ausgrabung weißt«, verlangte sie.
»Ihr habt mich mit Eurer Glocke gebunden, deshalb muss ich Euch antworten«, sagte Mareyn. Kein Hauch eines Gefühls lag in ihrer Stimme. »Doch ich möchte Euch um einen Gefallen bitten, falls Ihr erlaubt.«
»Welchen?«, fragte Lirael und warf einen Blick auf die Fragwürdige Hündin, die hinter Mareyn lauerte wie ein Wolf auf ein Schaf. Die Hündin begegnete ihrem Blick, wedelte mit dem Schwanz und flitzte hin und her. Offenbar spielte sie nur. Lirael verstand nicht, wie sie hier im Tod so vergnügt sein konnte.
»Der Nekromant der Grube, dessen Namen ich nicht auszusprechen wage«, sagte Mareyn, »tötete meine Gefährten und lachte höhnisch, als ich ihm schwer verwundet zu entkommen versuchte. Er hielt mich nicht auf, schwor mir jedoch, dass seine Diener mich im Tode finden und zu seiner Sklavin machen würden. Ich fürchte, das wird tatsächlich geschehen, denn ich musste meinen Körper unverbrannt zurücklassen. Ich will nicht zurück, Gebieterin, und jemand wie dem Nekromanten dienen.
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