Das Amulett der Zauberin: Roman (German Edition)
hochgezogenen Augenbrauen. »Einen Jungen, den du kaum kennst?« Sie schüttelte den Kopf. »Dummes Kind. Hast du wirklich geglaubt, du könntest das Werk einer Göttin verbessern?«
Rory wirkte von der Frage erschrocken.
»Der Talisman war ein Geschenk«, erklärte Gran, »das aus einem ganz bestimmten Grund gegeben wurde, nämlich damit eine T’airna-Frau weiß, ob der Mann, den sie liebt, ein wahrhaftiges Herz hat. Der Mann, den sie liebt. Er war nie dazu gedacht, die Kümmerlinge auszusortieren oder um benutzt zu werden wie eine von diesen dämlichen Maschinen, die Leute sich umhängen und damit verlorene Münzen und so etwas am Strand zu suchen.«
»Metalldetektoren«, sagte Rory. Sie lächelte nicht mehr.
»Ja. Genau. Der Talisman ist dazu gedacht, gutzuheißen, was das Herz bereits weiß. Nicht, um die Arbeit zu erledigen, die eine Frau für sich selbst tun muss. Die Liebe ist niemals einfach. Du musst dir die Hände schmutzig machen und riskieren, dass dein Herz verletzt wird. Ja, vielleicht wird es dabei sogar gebrochen. Du musst dir die Liebe erarbeiten, damit du, wenn sie dich schließlich findet, verstehst, was für ein Geschenk dir gemacht wurde und damit du es zu schätzen weißt.«
Eve hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Einen guten Kloß, einen glücklichen Kloß, einen Kloß aus träumerischer Erwartung. Und wenn sie sich Rory so ansah, wie sie da auf ihrem Stuhl saß und auf ihrer Unterlippe kaute, hatte sie einen ähnlichen Kloß im Hals. Gran war gut. In wenigen Minuten und mit wenigen Worten hatte sie alles gesagt, was Rory über die Liebe hören musste, über ihren Preis und ihre Möglichkeiten. Eve wünschte sich, sie wäre so weise wie Gran. Sie hatte – um Rorys Wort zu verwenden – sie beide kaleidoskopt.
Ein paar Stunden später sagten sie einander gute Nacht, gingen zu Bett und hatten jede Menge Stoff zum Nachdenken, bis der Schlaf kam.
Eve nahm ihre lederne Aktentasche aus reiner Gewohnheit mit ins Schlafzimmer. Sie würde heute nichts von dem bearbeiten, was sie aus dem Büro mitgebracht hatte. Als sie die Tasche auf das Bett warf, stach ihr etwas Rotes ins Auge, und ihr fiel die einzelne Rose wieder ein, die sie spontan behalten hatte, nachdem sie einen Praktikanten gebeten hatte, die anderen hundertneunundsiebzig an alle zu verteilen, die eine haben wollten.
Die feuchte Serviette, die sie um den Stiel gewickelt hatte, war trocken und die Rose war schon ein wenig verwelkt. Die Ränder der samtigen Blütenblätter waren dunkel und fingen an, sich aufzurollen. Die Blume war nicht mehr zu retten, aber trotzdem holte sie ein Glas Wasser und stellte sie hinein, so dass sie sie vom Bett aus sehen konnte. Und sie lächelte, als sie das Licht ausmachte.
Auf der anderen Seite des Hauses, die Zwischentür geschlossen und verriegelt, schob Gran Schuhkartons und Hutschachteln und Umzugskartons mit allerlei Krimskrams zur Seite, um die hinterste Ecke ihres Kleiderschranks zu erreichen. Dort fand sie die Reisetasche aus Gobelinstoff, die sie dort versteckt hatte, und trug sie zu ihrem Bett. Die einst leuchtenden Farben – Gold und Burgunderrot und Dunkelgrün – waren schon lange verblasst, und neben dem Reißverschluss, wo die einzelnen Fäden durchschienen, gab es gar keine Farben mehr.
Aber das spielte keine Rolle. In den Augen von Brigid T’airna sah sie noch genauso aus wie vor Jahrzehnten, als sie von dem Schiff ging, dass sie und all ihren weltlichen Besitz über den Ozean getragen hatte. Der größte Teil dieses Besitzes – und alles, was ihr etwas bedeutete – hatte sich in dieser Tasche befunden, und sie hatte sie niemals aus den Augen gelassen.
Darunter waren auch die Schösslinge zweier Rosenbüsche, die sie mit eigenen Händen mitten in der Nacht vorsichtig ausgegraben hatte, auf dem großen Herrensitz, auf dem ihr geliebter Liam als Gärtner gearbeitet hatte. Sie hatte sie so beschnitten, dass sie in die Tasche passten, und hatte sich aufopferungsvoll um sie gekümmert wie ein Vogel um seine Jungen, im Sturm und trotz Seekrankheit, den ganzen Weg von Irland nach Amerika. Abgesehen von ihren Erinnerungen waren die Rosen und ihr ungeborenes Kind alles gewesen, was sie von dem einzigen Mann besaß, den sie je geliebt hatte, und sie war entschlossen, dass das Kind wie auch die Rosen in ihrem neuen Zuhause gedeihen sollten.
Und für eine Weile war es auch so gekommen. Ihre liebe Diana war nun von ihr gegangen, und auch die Rosen waren für sie verloren. Aber trotz
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