Das andere Kind
der Einzige, dem ich vertraue. Fiona.
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Er öffnete die Datei.
Wenigstens mussten wir uns nicht um einen Angehörigen sorgen, damals, im Spätsommer 1940, als
sich unser aller Leben veränderte. Die Väter vieler meiner Freundinnen standen an der Front,
und die Familien zitterten aus Angst vor einer schlechten Nachricht. Mein Vater hingegen war
schon vor dem Krieg gestorben, im Frühjahr 1939. Eine seiner berühmten Kneipentouren, bei denen
er das bisschen Geld, das er bei der Straßenreinigung verdiente, vollständig versoff, hatte zu
einer Schlägerei mit anderen Betrunkenen geführt, wobei sich später nicht mehr feststellen
ließ, wer angefangen hatte und worum es bei der Auseinandersetzung eigentlich gegangen war.
Vermutlich war es nichts Besonderes gewesen. Auf jeden Fall wurde mein Vater schwer verletzt
und musste in ein Krankenhaus, dort bekam er den Wundstarrkrampf, dem man damals noch
wesentlich hilfloser gegenüberstand als heute, und starb innerhalb kürzester Zeit. Meine Mutter
und ich blieben allein zurück und mussten uns von nun an mit der Hinterbliebenenrente
durchschlagen, die wir vom Staat bekamen. Finanziell ging es uns damit trotzdem besser als
vorher, weil wenigstens niemand mehr das Geld in die Kneipen trug. Außerdem hatte meine Mutter
zwei Stellen als Putzfrau gefunden und stockte damit unser Einkommen auf. Irgendwie kamen wir
über die Runden.
Im Sommer 1940 wurde ich elf. Wir lebten im Londoner East End in einer kleinen Dachwohnung, und
ich erinnere mich, dass jener Sommer brütend heiß und unsere Wohnung ein Backofen war.
Deutschland war dabei, die gesamte Welt in den Krieg zu verstricken. Frankreich war besetzt
worden, und dabei hatten die Nazis auch gleich die Kanalinseln einkassiert, die zu England
gehörten. Man wurde nervös hier in England, auch wenn die Regierung Durchhalteparolen ausgab,
den Kampfeswillen der Menschen beschwor und von einem baldigen Sieg über Nazideutschland
sprach.
»Was machen wir, wenn sie hierherkommen?«, fragte ich meine Mutter. Sie schüttelte den Kopf.
»Sie kommen nicht, Fiona. Eine Insel kann man nicht so leicht einnehmen.«
»Aber die Kanalinseln haben sie auch besetzt!« »Die waren klein und ohne Verteidigung, und sie
liegen sehr dicht bei Frankreich. Mach dir keine Sorgen.«
Die Deutschen selbst kamen zwar nicht, dafür schickten sie ab Anfang
September ihre Bomber. The Blitz begann.
Nacht für Nacht wurde London angegriffen, Nacht für Nacht heulten die Sirenen, versammelten
sich die Menschen in den Luftschutzkellern, krachten Häuser zusammen und versanken ganze
Straßenzüge in Schutt und Asche. Am nächsten Morgen bot eine einst vertraute Gegend plötzlich
ein völlig verändertes Bild, weil etwa ein Haus ganz fehlte oder nur noch als Ruine leise vor
sich hin qualmend in den Himmel ragte. Auf meinem Schulweg konnte ich die Leute sehen, die in
den Trümmern nach Habseligkeiten suchten, die das Inferno überstanden haben könnten. Einmal sah
ich eine verdreckte, magere junge Frau, die wie eine Wahnsinnige zwischen den Steinen eines
völlig in sich zusammengefallenen Hauses grub. Das Blut lief ihr über Hände und Arme, die
Tränen strömten ihr übers Gesicht und hinterließen helle, glänzende Spuren in der Staubschicht.
»Mein Kind ist da unten!«, schrie sie. »Mein Kind ist da unten!« Niemanden schien das zu
kümmern, was mich tief schockierte.
Als ich am Abend meiner Mutter davon erzählte, wurde sie ganz blass und nahm mich in die Arme.
»Ich würde wahnsinnig, wenn dir so etwas passierte«, sagte sie. Ich glaube, an jenem Tag begann
ernsthaft der Gedanke in ihr zu reifen, dass ich fortmüsste aus London.
Evakuierungen hatten schon früher stattgefunden. Bereits am 1. September
1939, dem Tag, an dem Hitler Polen überfiel und zwei Tage bevor England Deutschland den Krieg
erklärte, war damit begonnen worden, Hunderttausende von Briten vor allem aus den großen
Städten in die ländlichen Regionen zu schaffen. Die Angst vor Luftangriffen ging schon damals
um, vor allem die Furcht, die Deutschen könnten uns mit Gas attackieren. Jeder Bürger musste
stets eine Gasmaske bei sich tragen, und es gab überall in der Stadt Warnschilder, die uns
daran erinnern sollten, wie real die Gefahr war, in der wir schwebten. Hit/er will send no warning, hieß es dort in riesigen
schwarzen Lettern auf leuchtend gelbem Grund, und das bedeutete:
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