Das andere Ufer der Nacht
Gefühl der Scham stieg in mir hoch. Ja, ich schämte mich für meine Artgenossen, die sich Menschen nannten, auch wenn sie vor einigen Jahrhunderten gelebt hatten.
Sprechen konnten sie nicht. Und doch verstand ich, was sie sagen wollten, denn sie nahmen auf telepathischem Wege mit mir Kontakt auf. Ich hörte ihre Stimmen in meinem Hirn als ein wirres Brausen. Worte waren nur selten zu verstehen.
»Büßen, du wirst das zu büßen haben, was uns deine Vorfahren angetan haben. Sie folterten uns, sie mordeten, sie dachten, wir wären tot, aber das Jenseits wollte uns nicht. Es verbannte uns in diese Dimension, weil es mit der Familie Marquez und deren Nachkommen etwas anderes vorhatte. Alle sollen büßen, die zu dieser Familie gehören, und zwar so lange, bis es keinen mehr aus diesem Geschlecht gibt. Wir haben mit den Menschen Kontakt aufgenommen, wir haben die Anführerin der Sippe gezwungen, uns Menschen in dieses Reich zu schicken, damit sie einen Teil ihrer Buße erledigen kann. Immer wieder gab es Töchter, die Nachwuchs gebaren, die…«
Jetzt meldete ich mich, denn ich wollte und musste diesen Wesen mitteilen, dass sie sich auf dem Holzweg befanden. »Nein, ihr irrt!« rief ich laut. »Ich gehöre nicht zu dieser Familie…«
»Das ist uns egal geworden. Alle, die mit ihr zu tun haben müssen büßen, auch du.«
»Ich habe das Kreuz!«
»Das hatten sie auch…«
Es war zum Verrückt werden. Gegen diese Logik der Geister kam ich einfach nicht an. Ihre Rache würde so lange weitergehen, bis keiner aus der langen Stamm-oder Ahnenreihe der Marquez mehr vorhanden war. Und das konnte Jahrhunderte dauern. Also wurde auch ich weiterhin in diesen furchtbaren Kreislauf mit eingeschlossen.
Doch ich wollte nicht! Ich war gekommen, um diesen Kreislauf aufzubrechen. Da man mich körperlich nicht attackiert hatte und es in naher Zukunft auch nicht aussah, als würde sich dies ändern, stemmte ich mich gegen ihre Gedankenwelt an.
»Nein!« schrie ich ihnen entgegen. »Nicht mit mir!«
»Doch, auch…«
Ich hob beide Hände. Jetzt wollte ich es versuchen. Die Schatten waren verschwunden, sie hinderten mich nicht mehr, und ich stieß beide Fäuste vor. Dabei zielte ich genau auf das Gesicht der stoppelhaarigen Frau. Es tauchte nicht zur Seite, auch nicht, als meine Hand es berührte. Nein, es gab keinen Kontakt, ich fasste hindurch und hatte zum erstenmal den Kreis durchbrochen.
Diese Tatsache sorgte bei mir für einen Stimmungsumschwung. Zwar blieben die Depressionen nach wie vor, ein schlechtes Gewissen lässt sich nicht so einfach abstellen, aber mir ging es nach diesem Erfolg wesentlich besser. Ich hatte feststellen können, dass die in diesem Reich herrschenden Geister auch nicht allmächtig waren.
Und ich schwebte zwischen ihnen.
Ein Mensch, der seinen vollen Körper besaß, nicht feinstofflich war, konnte sich in diesem Reigen bewegen, als würde er einer der ihren sein. Es war ein herrliches Gefühl, das ich genoss, denn ich bewegte mich weiter wie ein Schwimmer, da auch ich mich praktisch mit den Beinen abstoßen musste, um Distanzen zurücklegen zu können. Mich umgab die graue, geisterhafte Nebelwelt, in der alles so anders war. So leicht, so tragend und auch auf irgendeine Art und Weise beschützend. Ich fühlte mich sicher.
Genau bis zu dem Augenblick, als sich mein Blick klärte und ich in die Ferne schauen konnte.
Wie weit das Bild von mir weg war, konnte ich nicht sagen, aber ich erkannte Einzelheiten und sollte miterleben, was mit der Person geschah, die zur Familie Marquez gehörte.
Es war furchtbar…
***
Senora Marquez hatte gebettelt, geflucht und gefleht. Es hatte ihr alles nichts geholfen. Suko und Bill waren hart geblieben, sie mussten hart bleiben, denn nur über diese Frau, die sich in der Tiefe auskannte, konnten sie einen Erfolg erringen. Sie wusste, wo der unterirdische Fluss hinführte und mündete, also musste ihr auch bekannt sein, wo sich John Sinclair befand.
Sie hatten den Fluss nicht überquert, aber zwei Fackeln mitgenommen, deren Licht sie begleitete, und so schritten die drei Gestalten am linken Flussufer entlang, hatten oft genug Mühe mit dem Weg, weil sie über große, herumliegende Steine klettern mussten und dabei auf den glitschigen Flächen nicht ausrutschen durften.
Des öfteren riskierten sie einen Blick hinüber ans andere Ufer. Viel gab es dort nicht zu sehen. Eine finstere Felswand, undurchlässig, gewachsen oder gebaut für alle Zeiten. Manchmal liefen
Weitere Kostenlose Bücher