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Das andere Ufer der Nacht

Das andere Ufer der Nacht

Titel: Das andere Ufer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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gequälte Ausdruck in ihren Zügen. Er sprach Bände. Ich konnte die Angst und die Furcht dort wie in einem aufgeschlagenen Buch ablesen. Es war für mich ein fürchterliches Bild, denn die Gesichter ragten schräg aus den grauen Wänden, die mich an einen dicken Nebel erinnerten. Sie schwebten näher. Deutlich konnte ich Einzelheiten erkennen. Es gab kein Gesicht, das noch normal gewesen wäre. Auf irgendeine Art und Weise waren sie allesamt gezeichnet worden.
    Wunden, Striemen, aufgerissene Haut, das alles sah ich. Eine Frau hatte schwarz verbrannte Haare. Schlimm…
    Allmählich hatte ich meinen ersten Schock überwunden und konnte wieder normal denken. Ich dachte über die Gesichter und deren Herkunft nach. Menschen waren es nicht mehr, auch wenn sie ihr menschliches Aussehen beibehalten hatten. Man konnte sie als feinstofflich bezeichnen, und mit diesem Begriff überschrieb man auch den Namen für Geister oder gespensterhafte Wesen.
    Diese Menschen, die ja einmal normal gelebt hatten, waren gestorben. Und sie hatten ihr Aussehen nicht verändert. Aber auf welch grauenhafte Weise hatte man sie getötet! Musste die Familie Marquez nicht Buße tun, um den grauenvollen Sünden ihrer Ahnen Abbitte zu leisten!
    So sah es aus, und ich rechnete damit, dass diese Gesichter die Geister der Menschen waren, die durch die Folterhände der Inquisition und der Familie Marquez umgekommen waren.
    Hier in einem Zwischenreich hatten sie sich versammelt und warteten auf diejenigen Personen, die ihnen die Nachkommen der Inquisitionsherren schickten, damit die Buße weiterlief.
    Wenn das tatsächlich stimmte, mussten die feinstofflichen Wesen auch von mir annehmen, dass ich ebenfalls zu der Familie gehörte, und so würden sie sich entsprechend an mir rächen.
    Leider hatte mir der Sterbende nicht verraten können, welches Leid er hatte durchmachen müssen. Es musste furchtbar gewesen sein. Allein vom Anblick dieser Gesichter starb man nicht. Bestimmt gab es da noch etwas anderes, das einen Menschen zuerst in den Wahnsinn und anschließend in den Tod treiben konnte. Ich gehörte nicht zur Familie. Dafür das Mädchen Viviana!
    Etwas umklammerte mein Herz, als ich an sie dachte. Wenn die Geister mich entdeckt hatten, war es nur mehr eine logische Folge, dass auch Viviana ihnen nicht verborgen blieb. Und sie besaß nicht die Nerven wie ich.
    Gern hätte ich eine Spur von ihr aufgenommen, aber ich schwebte ebenso im Nichts wie die mich umgebenden geisterhaften Gestalten. Sie zogen den Kreis enger. Die Pein ausstrahlenden Gesichter drang auf mich ein. Sie wurden größer, als wollten sie mir jedes Detail zeigen, an dem sie in ihren normalen Leben so gelitten hatten. Obwohl ich nicht körperlich angegriffen wurde, war es einfach furchtbar für mich. Allein das Gefühl zu beschreiben, das mich durchtoste, fällt mir ungemein schwer.
    Jeder Blick lastete auf mir wie eine furchtbare Anklage, als würden alle mich dafür verantwortlich machen wollen, was ihnen in ihrem normalen Leben an Schrecken, Marter und Pein widerfahren war. Sie präsentierten mir ihre Wunden in einer stummen, gespenstischen Geschlossenheit, und die eine Frau mit den verbrannten Haaren machte mir besonders zu schaffen. Insgesamt wurde ich von sechs kreisenden Gesichtern umgeben, aber immer wenn ich das Gesicht der Frau sah, wurde mir klar, dass sie wieder eine Runde beendet hatten.
    Wohin sollte es führen?
    Zu einem Psycho-Terror? Eine nicht ausgesprochene Anklage, die sich gedanklich in meinem Hirn festsetzte und darin eine regelrechte Marter erzeugte.
    Der Anblick der Gesichter sollte bei mir ein schlechtes Gewissen erzeugen, das so tief in mich drang, bis es zu einer regelrechten Qual wurde, die der, die diese Geister als Menschen einmal mitgemacht hatten, in nichts nachstand. Sie kreisten langsam um mich herum, saßen mit ihren kurzen, stumpf wirkenden Hälsen auf den Nebelwolken, aus denen plötzlich Hände erschienen, die zu ihnen gehörten. Lange, bleiche Finger, Totenklauen, vor denen ich zurückzuckte, die aber nicht nach mir griffen, sondern etwas anderes vorhatten. Sie wiesen auf ihre schrecklichen und entstellenden Wunden. Einmal auf den offenen Mund, in dem sich keine Zunge mehr befand, dann auf Wangen mit daumentiefen Rissen, auf leere Augenhöhlen, für die die Folterknechte der Inquisition verantwortlich waren. Die Frau präsentierte ihre verbrannten Haare.
    Furchtbare Bilder peinigten mein Gewissen, so daß ich in eine Art von Apathie verfiel. Ein

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