Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
Richtung sie fliehen sollten. Da ertönte links von ihnen ein Schrei, der kaum mehr etwas Menschliches hatte. Gret riss Elisabeth auf die Seite. Da taumelte der Bader auf sie zu und fiel vor ihnen auf die Knie. Mit irrem Blick sah er zu den Frauen hoch. Sein rechter Arm war kurz unterhalb der Schulter abgeschlagen. In hellen Fontänen spritzte das Blut auf die Gewänder der Frauen. Elisabeth starrte ihn an und wollte sich zu ihm hinabbeugen, um ihm zu helfen, doch Gret zog sie mit eiserner Hand ins Unterholz.
»Weg hier! Schnell!«
Jeanne raffte die Röcke und folgte. Blindlings rannten die Frauen los. Zweige peitschten ihnen ins Gesicht. Dornen krallten sich in ihre Kleider. Sie stolperten über Wurzeln und totes Gehölz. Elisabeth verlor Grets Hand. Sie wusste nicht, wo Jeanne war. Wie sollten sie sich in dieser Finsternis wiederfinden? Zu rufen wagte sie nicht. So lief sie nur weiter, bis ein heftiger Schlag gegen die Stirn sie aufhielt. Elisabeth gewahrte noch den moosbedeckten Ast, gegen den sie mit dem Kopf gestoßen war, dann wurde ihr schwindelig, und ihre Knie gaben nach.
Sie fiel. Sie kniete im nassen Laub und schüttelte den Kopf, um den Schwindel zu vertreiben.
Was war das? Geräusche. Rascher Atem. Ein Blitzen von Stahl. Die Gestalt kam näher. Nein, der üble Atem gehörte nicht zu Gret oder Jeanne und auch nicht zu Albrecht. Die dunkle Gestalt beugte sich herab. Grobe Hände umfassten ihre Schultern. Elisabeth versuchte sich ihnen zu entwinden, als sie ein weiterer Schlag auf den Kopf traf. Ihre Sinne schwanden.
Die Erinnerung presste ihr die Kehle zu. Nein! Hatte sie dies nicht alles schon einmal erlebt? War sie nicht schon einmal an diesem Abgrund gestanden, von dem es eigentlich kein Zurück gab? Würde das warme Licht dort am Ende dieses Mal siegen und ihre Seele von ihrem irdischen Körper fortführen?
Schmerz pochte hinter ihrer Stirn, und jedes ihrer Glieder fühlte sich an wie zerschlagen. Angst loderte in ihr auf. Fing nun das Leid von vorne an? Würde sie sich wieder monatelang auf die Suche nach sich selbst machen müssen? Sie horchte in sich hinein. Da waren Bilder und Namen und Erinnerungen.
Ich bin Elisabeth, Tochter des Bischofs Johann von Brunn, sagte ihr Geist, und sie fühlte, wie sich der Knoten in ihrem Leib auflöste. Sie sah Meister Thomas’ Gesicht. Sie konnte
Georgs Lachen vernehmen und dann Albrechts Stimme, die versprach, immer bei ihr zu bleiben und ihr mit Schwert und Hand zu dienen. Sie wusste noch, wie seine Haut roch und wie sein Kuss schmeckte.
Da fühlte sich Elisabeth emporgehoben und getragen, nein, eher grob geschleift. Ihr Gesicht war nass und kalt. Etwas peitschte gegen ihre Wangen und ihren Hals. Die Geräusche, die am Rande ihres Bewusstseins auf- und abwogten, wurden lauter, bis der Lärm sie von allen Seiten einhüllte. Stimmen und Pferdegewieher, Hufgeklapper und Rufe. Dann ein unterdrücktes Wimmern von jemandem, der große Schmerzen leiden musste. Nun griffen noch mehr Hände nach ihr, und sie fühlte, wie ihre Füße den Boden verließen. Sie fiel bäuchlings auf etwas nieder, das nass und warm war. Es schwankte unter ihr, und der Geruch von Pferden stieg ihr in die Nase.
Ein Befehl schallte durch die Nacht, der von anderen Stimmen weitergetragen wurde. Kannte sie diese Stimmen? Vielleicht. Sie war sich nicht sicher. Noch immer war sie nicht in der Lage, die Augen zu öffnen oder sich auch nur zu rühren. Die Bewegungen, die ihr Körper vollführte, waren nicht die ihren. Der Leib, über dem sie wie ein Sack Getreide hing, zwang ihr die seinen auf. Das Dröhnen in ihrem Kopf wurde stärker, als das Pferd seinen Schritt beschleunigte. Schließlich verlor Elisabeth das Bewusstsein und tauchte in die erlösende Finsternis ein.
Als sie wieder zu sich kam, hing sie noch immer bäuchlings über einem Pferderücken. Eine starke Hand verhinderte, dass sie auf einer Seite hinabrutschte. Nun schmerzte nicht nur ihr Kopf zum Bersten. Ihr ganzer Leib war eine Woge des Leidens. Sie spürte, wie das Pferd seinen Schritt verlangsamte, dann blieb es stehen. Ein rötlicher Schein huschte an ihren geschlossenen Lidern vorbei. Sie hörte ein seltsames Knarren und Quietschen, dann setzte sich das Pferd wieder in Bewegung, zusammen mit den vielen Dutzend anderen, die sie umgaben.
Sie konnte die warmen Leiber spüren, die nun nach dem Ritt vor Regen und Hitze dampften.
»Was hast du denn da eingefangen?« Diese Stimme kam ihr bekannt vor.
»Ich schätze mal, eines
Weitere Kostenlose Bücher