Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
umgesehen.
Im Moment fühlte Juliette sich so schwerblütig, dass sie ein Zirkuspublikum hätte zum Weinen bringen können. Sie hatte gehofft, dass es ihr besser gehen würde, wenn sie Nathan alles beichtete, aber stattdessen kam es ihr so vor, als hätte sie ihm einen Freibrief erteilt. Jetzt hatte er einen Grund, sich mit Tia zu treffen. Seit Juliette ihn vor einigen Wochen damit konfrontiert hatte, dass es eine Tochter gab, hatte er sie in Bezug auf seine Pläne mit denkbar knappen Informationen abgespeist.
»Nathan«, hatte sie ihn wiederholt angefleht, »lass mich nicht im Ungewissen. Bitte!«
Woraufhin er sie jedes Mal gequält angeschaut hatte. »Ich bin im Moment ziemlich ratlos, Jules. Bitte lass mir ein bisschen Zeit, okay?«
Die Konfrontation mit Nathan hatte ihr alle Energie geraubt, all ihre Leidenschaft. Als er sich in sich zurückgezogen hatte, hatte er ihre Wut mitgenommen. Und vielleicht auch ihre Liebe – und ohne Leidenschaft würde ihre Beziehung sterben.
»Juliette?« Gwynne streckte den Kopf zur Tür herein, das Gesicht sorgenvoll. »Hier ist eine Frau, die dich gern sprechen möchte.«
Juliette stützte den Kopf in die Hände. So früh am Tag konnte sie sich nicht um eine Kundin kümmern, die ein dringendes Problem mit ihren Augenbrauen hatte oder von ihr verlangte, dass sie ihr einen Lippenstift empfahl, der ihr einen Verlobungsring garantierte, oder eine Vertreterin, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte und nicht wusste, dass juliette&gwynne nur eigene Produkte verkaufte.
»Kannst du sie wegschicken?« Juliette massierte sich die Schläfen. »Bitte. Ich möchte im Moment niemanden sehen.«
»Ich glaube nicht, dass ich diese Frau wegschicken kann.« Gwynne stützte sich auf dem Schreibtisch ab und beugte sich so weit vor, dass Juliette gezwungen war, sie anzusehen.
»Wer ist es denn?«, fragte Juliette entgeistert und hoffte inständig, dass nicht eingetreten war, wovor sie sich seit ihrer Firmengründung immer gefürchtet hatte – dass eine von Ausschlag befallene Kundin in den Laden gestürmt kam, der ein Produkt von juliette&gwynne das Gesicht entstellt hatte. Juliette zweifelte nicht an der Qualität der Zutaten, die sie für ihre Produkte verwendeten, sie vertraute ihren Herstellern, aber wer konnte schon sagen, was für toxische Stoffe eine Frau unter ihre Cremes mischte und sie dann für das Ergebnis verantwortlich machte?
»Es ist keine Kundin«, sagte Gwynne und nahm ihre Hand. »Es ist Tia.«
Juliette versuchte, ihr Zittern unter Kontrolle zu bringen, als sie nach vorne in den Laden ging. Madge, ihre dreiundsechzigjährige Empfangsdame, die sie als Aushängeschild für die Schönheit des Alters ausgesucht hatten, schob auf ihrem Schreibtisch Papiere hin und her, während sie darauf wartete, dass das Drama seinen Lauf nahm.
Die Luft knisterte.
Juliette trat auf Tia zu wie auf eine Duellantin. So nahe waren sie sich noch nie gewesen. Juliette hatte die Arme vor der Brust verschränkt und umklammerte die Oberarme so fest, dass es wehtat. Tia wirkte so jung, jünger als neunundzwanzig. Sie war zwölf Jahre jünger als Juliette. Sie hatte Nathan die Einzelheiten mühsam aus der Nase ziehen müssen.
»Was spielt es für eine Rolle?«, hatte er gefragt.
»Für mich spielt es eine Rolle«, hatte Juliette geantwortet.
Sie kam sich vor, als gehörte sie einer anderen Generation an.
Tias Kleider wirkten billig. Ihr dünnes schwarzes T-Shirt war so tief ausgeschnitten, dass der BH fast zu sehen war. Ihre Jeans waren abgetragen und verschlissen.
Und sie sah trotz ihres fürchterlichen Aufzugs gut aus. Modisch nachlässig. Ihre großen Augen, braun wie feuchte Erde, wirkten abgrundtief. Diesen Augen war Nathan verfallen.
Und was für eine schmale Taille. Diese Frau sollte ein Kind geboren haben?
Tia schaute Juliette direkt an. Den Blicken nach zu urteilen, mit denen die wenigen wartenden Kundinnen sie bedachten, musste die Spannung zwischen ihnen deutlich zu spüren sein. Madge tat nach wie vor so, als würde sie nicht hinsehen, während sie in Wirklichkeit jede noch so kleine Bewegung registrierte, um nachher allen Mitarbeiterinnen davon zu berichten. Auch wenn sie nicht so genau wusste, was sich hier abspielte, hatte sie ihre Klatschantennen auf Empfang gestellt.
Schließlich rettete Gwynne die Situation. »Juliette. Vielleicht solltest du mit deiner … deiner Kundin lieber ins Büro gehen.« Sie drückte Juliettes Ellbogen. »Ich bringe euch Kaffee.«
Es war
Weitere Kostenlose Bücher