Das Beben
Rechtschaffenheit, mit der bei uns das Frühaufstehen häufig verbunden ist, die Stimmung verdrossener Pflichterfüllung ganz weg. Das Schalten und Walten des Königs mit der Zeit hatte nicht das Beengende des Pünktlichkeitskorsetts, er verfügte im Rahmen seiner monarchischen Prärogativen über die Zeit und schwamm darin nach seinem Belieben, vorzugsweise auch in den Stunden, die den trivialeren Existenzen durch den Schlaf verschlossen bleiben.
Die öffentlichen Gebäude der Kolonialzeit, jener Boulevard am Rand der ineinandergeschachtelten, von den Shikaras der Tempel überragten Altstadt, lagen jetzt da, wie sie der Stadtplaner auf dem Reißbrett geschaut hatte, die Knaben- und die Mädchenschule, das Hospital, die Polizeistation, die Distriktsverwaltung – einst königliche Kanzlei –, die öffentliche Bibliothek – so stattlich von außen, so verwahrlost im Innern mit schlecht gebundenen, auseinandergefallenen Büchern auf bräunlichem Papier, die in mit dicken Vorhängeschlössern verriegelten schmutzigen Glasschränken vor befugtem und unbefugtem Zugriff gesichert waren – alle einstöckig, in U-Form, die palladianischen Arkaden mit Bambusmatten verhängt. Das königliche Gefährt paradierte an diesen Zeugnissen provinzieller Machtrepräsentation vorbei. Die staubige, an Schlaglöchern reiche Straße nahmen wir allein ein. Kühe blickten auf und sahen dem König hinterher, mit dem sie in wesensgemäßer Verbindung standen, Institutionen wie er, heilig und ausgesondert wie er, der Menschheit dienend zugeordnet wie er, unabhängig davon, ob diese Menschheit von diesem Dienst Kenntnis nahm oder nicht. An den Rändern zerfiel Sanchor wie eine moderne Stadt, immer hinfälliger wurden die Baracken, immer mehr nach Notunterkünften, hastig aus ein paar Backsteinen und etwas Beton zusammengehauen sah das aus. Hier brannten kleine Feuer am Straßenrand, Männer mit Schals um den Kopf geschlungen wärmten sich. Sie sahen nicht auf, als der König vorbeifuhr.
Was hatte ich mir vorgestellt? Fünfzig Jahre nach der Entthronung, dreißig Jahre nach endgültiger Verstoßung ins Privatleben durch die allmächtige Dynastin Indira Ghandi sollte das Volk von Sanchor wohl immer noch grüßend und jubelnd am Straßenrand stehen? Dennoch war an der Nichtbeachtung durch die wenigen, die überhaupt auf der Straße waren, etwas Unnatürliches, wollte ich mir einbilden. Die neue Zeit hatte keine Form entwickelt, mit der Gegenwart des Königs, die ungebrochen fortbestand, angemessen umzugehen. Man ignorierte entweder die neuen Verhältnisse und fuhr fort wie in den letzten tausend Jahren, oder man sah weg.
Wir gewannen das freie Land mit spärlich bewässerten Feldern, neuen Brunnen, die noch den letzten Tropfen Grundwasser aus dem Boden pumpten, gemächlich ins Leere wandernden Frauen mit Lasten auf dem Kopf, Eseln und immer wieder Kühen, die ihrer Aufgabe, dazusein, nachgingen. In der Ferne zeichnete sich ein Gebirge ab, das in nacktem weißem Stein diese Ebene begrenzte.
»Das älteste Gebirge der Welt«, sagte der König, »älter als der Himalaya.« War es nicht geradezu selbstverständlich, daß in seinem Reich das älteste Gebirge lag? Berge, die womöglich sogar schon da waren, als der erste König von Sanchor die Herrschaft ergriff, oder hatten sie sich erst unter seinem segensreichen Regiment aus der Erde hervorgewölbt, um dem Land eine würdige Grenze zu geben? Nur ein kurzes Stück fuhren wir auf dem Highway, von bunt bemalten Lastwagen umbraust, fahrenden Kali-Tempeln, in deren Führerhäuschen die Räucherstäbchen glommen und mit ihrem Rauch die Augenlider der übermüdeten Fahrer reizten. Bei einem ausgebrannt auf der Seite liegenden Omnibus bogen wir ab auf eine schmale Straße. Und auf dieser Straße sollten wir nun sechs Stunden lang jedes Schlagloch kennenlernen. Sehr schnell setzte ich meinen Turban auf, den ich bis dahin verschämt auf dem Schoß gehalten hatte, um nicht bei jedem Schlagloch mit der Stirn an die Eisenstange über mir zu stoßen.
Hier beginne die Wüste, sagte der König. Zufriedenheit klang in seiner Stimme auch darüber. Was konnte einem Reich zustoßen, in dem es eine Wüste gab? Wüsten waren unverwundbar. Wer fähig war, in der Wüste zu leben, konnte alles überleben. Von weich gezeichneten und durchwehten Dünen, wie sie mir bei dem Klang des Wortes Wüste sofort vor Augen standen, war hier allerdings nichts zu entdecken. Wüste wurde genannt, wo besonders wenig wuchs, aber
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