Das Bernstein-Teleskop
Falke.
Der Anführer der Spione hieß Lord Roke und bot einen denkwürdigen Anblick. Er war nicht größer als Lord Asriels Handbreite und so schlank wie eine Libelle, doch begegneten ihm die anderen Anführer Lord Asriels mit großem Respekt, denn er war mit einem giftigen Stachel in den Sporen an seinen Fersen bewaffnet.
Lord Roke pflegte auf dem Tisch zu sitzen und begegnete allen, die ihn nicht mit ausgesuchter Höflichkeit behandelten, mit Hochmut und beißendem Spott. Er und seinesgleichen, die Gallivespier, besaßen wenige der Eigenschaften guter Spione. Dafür kam ihnen natürlich ihre geringe Körpergröße zugute. Sie waren so stolz und launisch, dass sie, wenn sie so groß wie Lord Asriel gewesen wären, überall Aufsehen erregt hätten.
»Also«, sagte der Hauptmann kalt und schneidend, und seine Augen glitzerten wie Tintentropfen. »Euer Kind, Lord Asriel: Ich weiß über das Mädchen Bescheid, offenbar besser als Ihr.«
Lord Asriel funkelte ihn an, und der kleine Mann wusste sofort, dass er die Höflichkeit seines Befehlshabers über Gebühr ausgenutzt hatte. Lord Asriels Blick traf ihn mit der Wucht eines Fingerschnippens, und er verlor das Gleichgewicht und musste sich mit der Hand an Lord Asriels Weinglas festhalten. Im nächsten Augenblick gab sich Lord Asriel wieder verbindlich und zuvorkommend, genauso wie man es auch bei seiner Tochter erleben konnte. Lord Roke war jedenfalls gewarnt.
»Zweifellos, Lord Roke«, sagte Lord Asriel. »Doch aus Gründen, die ich nicht verstehe, steht das Mädchen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Kirche, und ich muss wissen, warum. Was spricht man dort über sie?«
»Im Magisterium brodeln die Spekulationen. Die eine Abteilung sagt dies, die andere jenes, und alle versuchen ihre Entdeckungen vor den anderen geheim zu halten. Die wichtigsten Abteilungen sind das Geistliche Disziplinargericht und die Gesellschaft der Werke des Heiligen Geistes. Ich habe Spione in beiden.«
»Es ist Ihnen also gelungen, ein Mitglied der Gesellschaft umzudrehen?«, entfuhr es Lord Asriel. »Gratuliere. Bislang galten sie als undurchdringlich.«
»Mein Spion in der Gesellschaft ist Lady Salmakia«, sagte Lord Roke, »eine sehr geschickte Agentin. Sie hat sich im Schlaf dem Dæmon eines Priesters genähert, einer Maus, und schlug vor, der Mann solle ein verbotenes Ritual durchführen, mit dem die Weisheit beschworen werden könne. Im entscheidenden Moment erschien meine Agentin vor ihm. Der Priester glaubt jetzt, er könne nach Belieben mit der Weisheit kommunizieren und dass sie aussehe wie eine Gallivespierin und in seinem Bücherschrank wohne.«
Lord Asriel lächelte. »Und was hat sie erfahren?«
»In der Gesellschaft hält man Eure Tochter für das wichtigste Kind aller Zeiten. Man glaubt, dass bald eine große Katastrophe über uns hereinbrechen wird und dann alles davon abhängt, wie das Mädchen sich verhält. Am Geistlichen Disziplinargericht findet gegenwärtig eine Untersuchung mit Zeugen aus Bolvangar und anderswoher statt. Mein Spion am Disziplinargericht, Chevalier Tialys, hält über den Magnetstein-Resonator täglich mit mir Verbindung und hält mich über alle Entdeckungen auf dem Laufenden. Meiner Meinung nach wird die Gesellschaft der Werke des Heiligen Geistes bald wissen, wo sich das Kind befindet, aber nichts unternehmen. Das Disziplinargericht wird dafür etwas länger brauchen, dann aber sofort und mit aller Entschiedenheit handeln.«
»Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie mehr wissen.«
Lord Roke verbeugte sich und schnippte mit den Fingern. Das blaue Falkenweibchen auf dem Mauervorsprung neben der Tür breitete die Flügel aus und glitt zum Tisch. Es trug Zaum, Sattel und Steigbügel. Im nächsten Augenblick war Lord Roke auf seinen Rücken gesprungen und die beiden flogen durch das Fenster, das Lord Asriel weit aufgemacht hatte.
Er ließ es trotz der bitteren Kälte noch eine Weile offen. Auf die Fensterbank gestützt, kraulte er die Ohren seines Dæmons, einer Schneeleopardin.
»Sie ist zu mir nach Svalbard gekommen, und ich habe sie nicht beachtet«, sagte er. »Du erinnerst dich an meinen Schrecken. Ich brauchte ein Opfer, und das erste Kind, das kommt, ist meine eigene Tochter! Als ich dann merkte, dass noch ein anderes Kind mit ihr gekommen war und ihr nichts passieren würde, war der Fall für mich erledigt. War das ein tödlicher Fehler? Ich habe danach überhaupt nicht mehr an sie gedacht, dabei ist sie so wichtig,
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